Kürzlich bin ich nach Lüneburg gezogen, vorübergehend, ich wohne jetzt in einer schmalen Gasse am Marktplatz, in der das Kopfsteinpflaster so alt ist, dass es krumm und schief aus dem Boden ragt. Nebenan hatten sich einmal Heines Eltern eingemietet, als der Vater schon alt war und krank, Heinrich kam hin und wieder vorbei, um seiner Mutter zu helfen, und fand es sonst eher fad, Es ist noch immer das alte, mürrische Lüneburg!, schrieb er seinem Schwager nach Hamburg, die Residenz der Langeweile! Sie haben das Haus trotzdem nach ihm benannt und das zugehörige Residenzstipendium auch, überhaupt gehen sie sehr offen mit dieser Verunglimpfung um, auf Wikipedia zum Beispiel und auf den Seiten des Stadtmarketings.
Meistens höre ich gar nichts, wenn ich hier am Schreibtisch sitze, es sei denn, die einundvierzig Porzellanglocken im Rathausturm spielen das Abendlied oder es findet eine Kundgebung vor dem Rathaus statt, aus Solidarität mit den Protestierenden im Iran, oder mittwochs und samstags der Wochenmarkt oder Menschen in Ganzkörperkostümen trinken Bier aus Plastikflaschen und versuchen sich in Geschicklichkeitsübungen rund um den Lunabrunnen, was nicht das Schlimmste ist, das er erdulden musste, der Bronzestatue wurden häufiger Pfeil und Bogen entwendet, 1970 verschwand sie ganz, nur die Füße blieben zurück, der Rest vermutlich eingeschmolzen.
Ansonsten höre ich aber tatsächlich nichts, nebenan leuchten immerzu die Fenster der JVA, die ans Lüneburger Landgericht angegliedert ist, manchmal ist es mir unheimlich, dass kein Lärm von dort hervordringt, und ich frage mich, ob dort niemand in den Zellen sitzt, weil sie sehr brav sind in Lüneburg oder nachsichtig, oder ob sich die Insassen einfach sehr leise verhalten, still auf ihren Pritschen liegen, an die Decke starren und leise vor sich hin flüstern, was sie der Haftrichterin sagen wollen, tags darauf. Ich bin unschuldig. Es war ein Unfall. Ich kann mich nicht erinnern. So was.
Postkarte aus Lüneburg
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© Suhrkamp Verlag -
© Yannic Han Biao Federer -
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