Vater geht voraus und grüßt den Onkel, der an der Kasse steht. Oh, hallo hallo!, sagt der Onkel. Er grinst und deutet eine Verbeugung an. Der Vater grinst auch und deutet eine Verbeugung an. Alex steht neben dem Vater, er grinst nicht und deutet keine Verbeugung an. Er sagt nur: Hallo. Der Onkel gibt dem Vater die Hand und dann Alex. Die Hand des Onkels ist weich und schlaff. Ein bärtiger Typ mit Rastas steht neben ihnen und braucht sehr lange, um zwei Packungen Tofu und eine Tüte Sojasprossen in seinem abgewetzten Rucksack zu verstauen. Er guckt sich neugierig den Vater an und Alex; er hört zu, wie der Onkel mit dem Vater spricht und wie sie dabei zwischen drei Sprachen hin- und herwechseln. Die dritte Sprache spricht der Vater nicht so gut, manchmal nuschelt er ein oder zwei Worte, bevor er wieder in die zweite oder erste zurückwechselt. Beim Gemüse steht die Tante, sie packt Grünzeug in Plastik und stapelt es ordentlich in eine Kühltheke. Ihre Finger stecken in Gummihandschuhen, die ganz erdig sind, sie winkt Alex zu sich. Oh, hallo hallo!, sagt sie. Wie alt bist du jetzt? Dreiundzwanzig, sagt Alex. Dreiundzwanzig!, wiederholt die Tante. Und was machst du? Studierst du? Ja, sagt Alex. Germanistik. Die Tante runzelt die Stirn. Deutsche Sprache und Literatur, erklärt Alex. Die Tante lässt vom Pak Choi ab. Du studierst Deutsch?, fragt die Tante.
Alex wird ins Behandlungszimmer gerufen. Er soll sich freimachen, aber er wartet, bis die zierliche Arzthelferin den Raum verlässt. Sie zieht frischen Krepp auf die Liege, tippt in einen schmalen PC, bis er seinen Name und seine Adresse auf dem Monitor erkennen kann, dann geht sie hinaus. Gerade legt er seine Unterhose auf einen weißen Plastikstuhl, als sie wieder hereinkommt. Sie könnte so alt sein wie er, vielleicht auch jünger. Wortlos durchquert sie den Raum, wühlt in einer Schublade und geht mit etwas Eingeschweißtem hinaus. Sie hat ihn nicht angesehen, aber Alex hatte sich trotzdem die Hand vor den Schritt gehalten. Oh, das ist gut, dass Sie kommen, sagt die Ärztin. Sie haben viele Muttermale. Viele dunkle Muttermale. Eigentlich ungewöhnlich bei Ihrem Hauttyp. Oha, macht Alex, dabei sagt sie das jedes Jahr, wenn er zur Kontrolle kommt, und jedes Jahr findet sie genau ein Muttermal, das entfernt werden muss. Manchmal wundert er sich, dass sie immer genau ein Muttermal findet, nicht etwa einmal drei und einmal keines. Als wäre ein Muttermal pro Jahr eine bewährte Größe, ein guter Richtwert, bei einer derart verdächtigen Pigmentierung. Die Ärztin zieht sich weiße Handschuhe über, dann legt sie ihm das Auflichtmikroskop auf die Haut. Es ist kalt und feucht vom Desinfektionsmittel. Hin und wieder wischt sie mit Papierhandtüchern über die Linse und besprüht sie neu. Das hier, sagt die Ärztin am Schluss und tippt mit dem Finger auf seinen Oberschenkel, das hier muss raus.
Alex hat einen neuen Mitbewohner, er heißt Finn, studiert BWL im ersten Semester und trägt enge Shirts und Pomade im Haar. Er kommt aus Heidelberg, ist blond und gut trainiert. Nach einer Woche bringt er zum ersten Mal Freunde mit, die meisten sind auch blond oder blondiert und so muskulös wie er, Finn kennt sie vom Beachvolleyball. Sie trinken Bier in der Küche und Alex setzt sich dazu. Er schüttelt ein paar Hände und bewundert Ina, er findet sie sehr hübsch. Irgendwann sieht Ina ihm lange ins Gesicht und Alex bekommt schwitzige Hände. Sie öffnet ihren schönen Mund und fragt: Woher kommst du eigentlich? Aus Reutlingen, sagt Alex. Sie zögert, dann setzt sie nach: Und deine Eltern? Auch, sagt Alex. Ah, macht sie nach einer Weile.
In der Vorlesung geht es um eine hitzige Debatte in den Zeitungen der Weimarer Republik. Ein Biologe hatte japanische mit europäischen Nachtfaltern gekreuzt und dadurch Exemplare hervorgebracht, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufwiesen. Der rechte Flügel mit den braunen Flecken des Männchens, der linke dagegen mit den weißen Streifen des Weibchens. Oder umgekehrt. In den liberalen Zeitungen wurden nun Wissenschaftler zitiert, die daraus den biologischen Sexus eher als Spektrum denn als binäre Kategorie auffassen wollten. Die rechten Zeitungen hielten es dagegen für endgültig erwiesen, dass Rassenschande und Blutvermischung eine existentielle Bedrohung für die Volksgesundheit bedeute.
Die Arzthelferin steht gebückt vor ihm, er kann ihren Scheitel betrachten und riecht ihr Parfum. Sie zieht ihm die Fäden aus dem Fleisch, tupft Blut ab, das aus den kleinen Löchern tritt, klebt ein Pflaster auf. Sie hat sehr kalte Hände, bemerkt Alex. Heute kein Sport und nicht duschen, sagt sie. Ansonsten alles in Ordnung. Das Muttermal war auffällig, aber nicht karzinogen. Aha, macht Alex und zieht die Hose hoch.
Die Mutter erzählt gerne, wie sie früher mit Alex durch die Straßen gegangen ist. Die Leute haben sich dann über Alex gebeugt und gesagt: Der ist aber süß, wo haben Sie den denn her? Das ist meiner, hat die Mutter immer stolz geantwortet. Und die Leute haben aufgesehen und gesagt: Ja, aber, wo haben Sie den denn her?
Als der Vater in Rente geht, sagt er, er möchte eine Papierfabrik aufmachen. Nicht hier, sondern in dem Land, aus dem er vor vierzig Jahren ausgewandert ist. Es sei jetzt relativ stabil dort, glaubt er, und der Onkel mache auch schon gute Geschäfte. Die Mutter ist besorgt und dagegen, aber sie sagt nichts. Ohnehin sprechen die Eltern nur noch sehr wenig miteinander, vielleicht will die Mutter die vier oder fünf Sätze, die ihnen pro Tag bleiben, nicht für einen Streit aufbrauchen. Sie fährt ihn zum Flughafen und der Vater fliegt mit einem einzigen Koffer, erzählt sie Alex später am Telefon. Gekommen ist er damals auch mit einem einzigen Koffer. Zuerst hat er bei Freunden auf dem Boden unterm Küchentisch geschlafen, dann hat er eine Matratze vom AStA bekommen, und erst mit den Hiwi-Jobs hat er genügend Geld verdient, um sich ein Bett mit Lattenrost kaufen zu können.
Den Vater hat die Mutter in der Universitätsbibliothek kennengelernt. Er stand da und weinte, weil ihm jemand das Brot gestohlen hatte. Einen ganzen Laib Brot hatte er vom Bäcker geholt, bevor er sich wieder an die Chemie-Hausaufgabe gesetzt hatte und darüber eingeschlafen war. Als er aufwachte, war das Brot verschwunden, das er in einem Jutebeutel neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Keiner hatte etwas gesehen und der Vater kaum noch Geld. Da waren ihm die Tränen gekommen, und mit Tränen in den Augen hatte er an der Bibliotheksaufsicht gefragt, ob jemand ein Brot abgegeben hätte. Die Mutter hatte den Schalter geschlossen und war mit ihm zum Bäcker gegangen.
Das hier, sagt die Ärztin, und tippt Alex auf den Nacken. Das hier muss raus. Oha, macht Alex. Am Empfangstisch vereinbart er einen Termin für den Eingriff und muss blinzeln, weil ihm durch ein Bogenfenster helles Sonnenlicht ins Gesicht fällt. Draußen ist es schon recht warm, und die Leute stehen mit offenen Mänteln vor den Cafés und rauchen. Im Bus vibriert das Telefon, und die Mutter sagt, dass der Vater angerufen habe. Etwas sei schiefgegangen, der Onkel fort und das Geld auch. Der Vater brauche jetzt neues Geld für ein Flugticket. Ob er aushelfen könne. Ja, sagt Alex, weil Alex inzwischen ganz gut verdient.
Als die Fäden gezogen sind, erklärt ihm die Ärztin den Befund. Außerdem sei ein weiterer Eingriff notwendig, eine Nachexzision. Im Radius von eineinhalb Zentimetern rund um die Erstexzision müsse nachgeschnitten werden, damit eine Streuung von Tumorzellen zuverlässig verhindert werden könne. Am Nacken sei die Operation zwar nicht unproblematisch, aber er habe Glück, da er ohne Hauttransplantation auskommen werde. Sie steht auf und drückt ihm eine Broschüre von der Deutschen Krebsgesellschaft in die Hand.
Der Vater zeigt auf den Fernseher. Schau, sagt er. Häuser brennen, Mopeds liegen zerquetscht auf der Straße, blutende Menschen. Oha, macht Alex. Der Nacken sticht wieder, und er drückt eine Schmerztablette aus der Packung.
Zuerst erschienen in: Das Narr #24