Als Autor beschäftigt mich dieses Begriffspaar immer wieder: Einerseits habe ich Mühe damit, dass gerade an DramatikerInnen immer wieder ein Wunsch nach »Welthaltigkeit«, »Heutigkeit«, gesellschaftlicher Brisanz herangetragen wird. Ich glaube nicht, dass der politische Gehalt Brecht interessant gemacht hat und auch heute noch interessant macht, es sind die Denkbewegungen, die man nachverfolgen kann. Andererseits haben zwei meiner eigenen Texte, Und dann und Drei sind wir, durchaus eine gesellschaftliche Dimension, nämlich die Wendezeit nach 1989 beziehungsweise den Umgang mit Gendefekten – dabei war es nie mein Ziel, ein Stück »über etwas« zu schreiben. Gleichzeitig hat die eigene Poetik des Schreibens durchaus Konsequenzen für die eigene Weltsicht und für politische Vorstellungen.
Für mich entsteht beim Schreiben im Idealfall ein Organismus, ein lebendiges System, in dem die einzelnen Teile miteinander kommunizieren, korrespondieren, miteinander in Spannung treten, in Harmonie und Reibung: die Figuren, Bilder, Wörter und Szenen. Und so ein System hat auch Fehler, eine Wiederholung zu viel, eine zu wenig, kleine Leerläufe, große Leerstellen, und das ist gut so, denn sonst wäre das Stück ein Kristall, perfekt, symmetrisch, schön und tot. Jedes Lebewesen aber hat Fehler, und so auch ein gutes Stück, und diese Fehler erst ermöglichen es dem Zuschauer und Leser, teilzuhaben, sich hineinzubegeben (ein Kristall hat keinen Eingang – Lebewesen haben Münder, After, Wunden).
Eine solche Sicht auf das Schreiben zieht politische Schlüsse nach sich. Wenn ein lebendiger Text das eigentliche Ziel ist, als Organismus, als System, dann ist Umwelt- und Naturschutz die logische Konsequenz. Nicht aus religiösen (Respekt vor einer Schöpfung) oder esoterischen Gründen (Mutter Natur), sondern aus poetischen. Schützenswert ist die Natur in ganz verschiedenen Formen, von unberührt bis städtisch: der Urwald als Ökosystem, das völlig vom Menschen verschont ist, wenn es das überhaupt gibt (vielleicht wie ein Theater ohne Zuschauer); oder die alpine Magerwiese, die nur durch menschliches Wirken entstehen kann (weil erst die Almwirtschaft eine große Artenvielfalt ermöglicht, an Blumen und Insekten, wo sonst alles verwalden würde); schließlich auch in der Beziehung, die sich zwischen mir und der Krähe vor dem Fenster aufbauen kann.
Natürlich ist es normal, besser: natürlich, dass Arten aussterben und sich Ökosysteme wandeln, Natur ist nichts Statisches. Und doch ist es so, dass der Mensch wie ein Meteorit auf der Erde einschlägt, die Aborigines vor Zehntausenden Jahren in Australien genauso wie der Mensch heute, nur hat er heute ganz andere technische Möglichkeiten. (Dieses Denken ist übrigens auf keinen Fall auf menschliche Kulturen zu übertragen. Menschliche Sprachen, Kulturen, Praktiken sind im steten Fluss und Austausch, und ich glaube auch nicht, dass die Vielfalt mit der Zeit abnimmt, nur weil nicht mehr jedes Dorf seinen eigenen Dialekt spricht, im Gegenteil, die Geschichten waren dann doch immer die gleichen, die man sich erzählt hat. Aber ein begradigter, betonierter Fluss kann von keinem Austausch profitieren.) Die Welt verödet.
Aber darüber ein Stück schreiben? Das kann ich leider nicht, auch wenn ich meine Wut gerne kanalisieren würde, gerne in dem, was ich kann, etwas machen würde. Ich wüsste nicht, wie so ein Stück aussehen würde, was darin geschehen würde.
Ein kleiner Trost, und hier kehre ich wieder zurück, ist eben, dass ich mit Stücken Ökosysteme schaffen kann. Es lehrt mich beim Schreiben, die einzelnen Teile wie auch das Ganze zu achten, so wie ich sie auch als Leser bei Brechts Stücken achte. Und wird Die heilige Johanna der Schlachthöfe zur Magerwiese, die ich begehen kann. Ich weiß nicht, ob es der Magerwiese hilft. Aber es ist nicht nichts.
Politik und Theater
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