FLUSS DER STIMMEN
FAUST
Die Sonne ein Kuhauge
Aus Silber über dem Wald
Ich am offenen Fenster –
Schnee fiel vorhin
In faltergroßen Flocken –
Ich bin in dieser Einöde
Dieser Mühle diesem Sägewerk diesem Bauernhof
Das Rauschen dieses Baches im Ohr aufgewachsen
Ich bin das Rauschen dieses Baches im Ohr
Hier gezeugt worden
Genauso wie mein Vater
Das Rauschen dieses Baches im Ohr
Hier gezeugt wurde
Und das Rauschen dieses Baches im Ohr
Sein Vater Johann
Ebenso das Rauschen dieses Baches im Ohr
Dessen Vater Ambrosius
Und ebenso das Rauschen dieses Baches im Ohr
Dessen Vater Isidor
Und doch war das Rauschen
Dieses Baches nie dieses
Rauschen jetzt
In Marmor gemeißelt
Mit Goldbuchstaben auf dem Friedhof
Sah ich die Namen Geburts- und
Sterbedaten der Großväter Urgroßväter
Und Ururgroßväter
Hier gezeugt geboren aufgewachsen
Und gestorben
Und auch die der Großmutter Elisabeth
Der Urgroßmutter Genoveva
Und der Ururgroßmutter Creszentia
Anderswo gezeugt geboren
Und aufgewachsen
Aber hier gestorben auf dem Hof
Jenseits des Kirchsteigs
Wo ich als Kind im Schatten der Blutbuche
Brombeerschwarz auf der Zunge
Mit Gott sprach über die Süße des Fruchtfleischs
Sah ich ebenfalls die Namen und Sterbedaten der Ahnen
Auf den an Tannen genagelten Totenbrettern
Überflüssige Erde vom allzugroßen Grab
Meiner Familie rings um die gewaltigen Stämme
In der Sonne Steine genetzt von den Säften
Der Fäulnis meiner Vorfahren aus deren Säften
Ich Sonne jetzt silbern über mir
Gekommen bin und
Fortgeweht werde ins Feuer
In die Erde
Nicht jetzt und nicht hier
(Auszug aus Sonnengesang II)
Faust Sonnengesang II hat das – durch all die verbindenden Kontakte zu den anderen Kontinenten bereicherte – Europa im Mittelpunkt. Im Anfang steht die tragische Familiengeschichte des Autors exemplarisch für die deutsche Geschichte im vergangenen Jahrhundert. Sie gipfelt in der Frage: Wie entkommen wir den Bildern des Leidens und des Martyriums, wie den Bildern der Apokalypse rings ums? Mephisto erscheint als Dante und weist den Weg ins Reich der Mütter, wo Demeter die Geschichte von der Entführung ihrer Tochter Persephone durch Hades erzählt. Mephista erscheint als Prinzessin Europa und klagt von ihrer Entführung durch Zeus … Wir sehen das jeweils unterschiedliche Licht in den Ländern Europas, wir stoßen auf älteste Zeichen in Spanien, Frankreich, Griechenland, in Italien und am Schwarzen Meer, wir hören Stimmen, die dem Kontinent geistige Kontur gegeben haben: unter anderen die Stimme Heraklits und die von Empedokles … Der Faust des Filmgedichts streicht im Dialog mit Goethe den Unterschied zu dessen Faust-Figur heraus. Er sagt zum Augenblick: »Verweile doch, du bist so schön« … Ovid, Giordano Bruno, Nietzsche werden als Kronzeugen eines Denkens, das in stetigem Fluss ist, beschworen … Faust und Mechthild von Magdeburg sprechen wie Liebende, über Jahrhunderte hinweg … Die Stimme der deutschstämmigen Rock-Ikone Nico, einer Persephone unserer Zeit, bringt uns in die Gegenwart zurück … Eine Brücke tut sich auf zum nahen und fernen Orient: Die Stimme Omar Khayyams oder die Rumis oder die von Hafiz, dessen Grab wir sehen, ist zu hören im Dialog mit der jungen Muse der Poesie … Schließlich wird Faust verwandelt in Gilgamesch und trifft die Göttin Ischtar. Er erkennt, dass die Hymnen auf den Gott seiner Kindheit ursprünglich Hymnen waren auf Ischtar. Am Schluss des Filmes steht Faust, flankiert von Mephista und Mephisto, am Ufer des Atlantiks und ahnt Amerika …
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Das Kino der Brotfabrik Berlin zeigt Faust Sonnengesang II vom 2. bis zum 8. August jeweils um 18.00 Uhr.