Seit vier Jahrzehnten fasziniert mich der Faust-Stoff, seit zwei Jahrzehnten arbeite ich an Faust Sonnengesang. Der Anfang: Goethes Faust, kurzgeschlossen mit deutscher Zeitgeschichte, als Folie in meinem Stück Gründgens (Deutsches Schauspielhaus Hamburg/Volksbühne Berlin, 1995). Für die Expo 2000 in Hannover durfte ich das Stück Chroma. Farbenlehre für Chamäleons schreiben – und meine Filmbilder waren Bestandteil des Bühnenbilds.
Ich fragte mich: Was erzähle ich der Welt über Deutschland? Was ist die tiefste deutsche Mythe? Faust. Was ist der Höhepunkt unserer Kultur: die Formung dieses Stoffes durch Goethe. Was die größte Niederlage: die Nazis. Im Schnittpunkt: Gustaf Gründgens. Der Jahrhundert-Schauspieler, der in vier verschiedenen deutschen Staaten Mephisto gespielt hatte: auf der Fronttheaterbühne des Ersten Weltkriegs, in der Weimarer Republik, in der Nazi- und in der Nachkriegszeit.
Irgendwann genügte mir Gustaf Gründgens nicht mehr als »Projektionsfläche«, die tragische deutsche Historie nicht mehr als alleiniger Hintergrund und ich entwarf eine Faust-Figur, die jede/r sein kann. Ich mache nur symbolisch den Anfang.
Faust Sonnengesang ist der »jüngste Film«, den ich sehen will, wenn ich die Augen für immer schließe. Oder was ich zu sehen fürchte. Wenn das Leben ein Traum ist, ist dieser Film der Traum eines Traums. Jede/r darf durch die Film-Bilder hindurch ihr/sein Leben sehen … Mephisto und Mephista erscheinen in steter Metamorphose, sind nicht genuin böse, sondern so, wie Faust es im tiefsten Innern will. Sie bringen ihn durch die Zeiten und Kontinente zu Zeichen, Tönen, Worten Lebender und Toter, die einen Augenblick, dem man Dauer wünscht, eingefangen und damit vergegenwärtigt haben.
Faust Sonnengesang ist der Versuch, den deutschen Faust-Stoff zur Welt hin zu öffnen. Bildlich gesprochen und wörtlich genommen, gleicht jeder Finger dieser geöffneten Faust einem Kontinent – und einem Medium: Filmgedicht/Langpoem/Hörgedicht/Theater/Installation.
Inzwischen habe ich auf jedem Kontinent – und den Faust-Stoff gleich einem Kristall in die Richtung eines jeden der fünf Medien – gedreht und Eindrücke/Begegnungen notiert: insgesamt eine Reise um die Welt und durch die Metamorphosen der Medien und der Metamorphosen Mnemosynes.
Wer mit Kamera und Laptop »schreibt«, wirkt an der Bild-Sprach-Grenze: Neue Hieroglyphen entstehen, neue Codizes, neue Sprach-Welt-Bilder, die herausragen aus der Sintflut des Sinns. Dass die Welt, wenn die faustische Bewusstseins-Alchemie gelingt, nicht »blindgesehen« und »todberichtet« wird, sondern neu erschaffen im Jetzt der Zuschauerin/des Zuschauers.
In der Hauptsache ist Faust Sonnengesang ein auf 24 Stunden angelegtes Filmgedicht, das den Lauf der Sonne durch alle fünf Kontinente, viele Kulturen und den eigenen Kopf imaginiert. Neben den Bildern und Tönen der Gegenwart soll aber nicht nur das Sichtbare, die Tages-Helle, sondern es sollen auch die ältesten Bilder und Texte ins Bewusstsein gehoben werden.
Wie im Ägyptischen Totenbuch zeichnet das Filmgedicht den Weg der Sonne durch die Unterwelt (durch unser Unbewusstes) nach: Wie die Sonne auf der Sonnenbarke Stunde um Stunde eine Region im Totenreich mit ihrem Licht belebt, so versucht Faust Sonnengesang das kulturelle Gedächtnis nach Wissen zu durchleuchten, welches vom Kairos geprägt ist, vom glücklichen Augenblick.
Faust irrt in seinem Kopf durch Gedanken-Gänge, die entweder in Verliese des Ichs, die – auch dies verbindet die Menschen – irgendwann zu Krankheit oder Tod führen, oder Faust kann genauso gut in Gehirn-Kammern gelangen, zu Bildern, die sich zur Welt hin öffnen. Mephisto und Mephista erscheinen in vielfacher Gestalt, sprechen mit immer anderen Stimmen, helfen Augenblicke zu memorieren oder die Träume zu kreieren, die freilich immer wieder in Alpträume umschlagen können.
Ausgelöst durch einen Unfall, läuft der Traum unseres Lebens vor unseren geschlossenen Augen ab: Was will man sehen? Was fürchtet man zu sehen? Was träumt man zu sehen?
Faust=Jeder geht durchs Labyrinth seines Lebens: geht durch eine Höhle, die sein Kopf ist – oder sein Herz, Stein geworden.
Durch die eigens für Faust Sonnengesang entwickelte Faust-Keil-Technik entstehen Bilder, die weder statisch die Welt abbilden noch nur abstrakte, also computergenerierte Bilder sind. Es entstehen vielmehr Bilder, die bereits in der Kamera durch die Faust-Keil-Bewegungen die »reale Welt« in neuer Gestalt erscheinen lassen: Das Sehen wird körperlich, wird gestisch, die Gegenstände werden aus vielen Perspektiven gezeigt, der Fluss der Atome wird visualisiert …
Da die Kamera also wie ein Faustkeil gehandhabt wird, erzeugt sie zeitenübergreifend Bilder, welche das Gezeigte durch die sich stetig verändernde Perspektive gleichsam in Zeit und Raum kubistisch aufsplittern, Bilder, die die Grenzen zwischen dem abstrakten Spiel der Farben und Formen, also dem Fluss der Licht-Partikel, und dem Konkreten aufheben: das Licht wird Schrift.
In Ägypten trifft Faust als Dichter des jetzigen Sonnengesangs Nofretete, er trifft in der Klassischen Walpurgisnacht auf Demeter und Persephone in Eleusis, während der Mysterien sieht er, wie Persephone im Feuer gebiert, er trifft Heraklit und Empedokles, Faust spricht mit Goethe in Böhmen, mit Nietzsche in Sils Maria, Faust trifft Ovid in Constanta am Schwarzen Meer, Buddha bei den Scheiterhaufen am Ufer des Ganges, in China trifft er Laotse in Gestalt eines alten Bauern mit seinem Büffel am Ufer des Yangtse, in Japan trifft Faust Kuan-Yin, die Göttin des Mitgefühls, Hokusai am Ufer des Meeres, in Kyoto spricht er mit Sei Shonagon übers Zuihitsu-Schreiben, er trifft die Haiku-Dichter Basho und Santoka Taneda, er trifft Jesus, der aus dem Tempel, welcher unsere Welt sein kann, wenn zwei oder drei in einem Geist versammelt sind, die Händler vertreibt, Faust trifft Franz von Assisi, der Frau Armut freit, Faust trifft Dante, Faust trifft Attar, den Sufi-Mystiker, in den Bergen, auf deren Gipfel Feuer brennen, Faust trifft Rumi, der in ekstatischem Derwischtanz über Gott/die göttliche Geliebte dichtet, Faust besucht das Grab von Hafis in Shiras, Faust trifft in Afrika, dem Reich der Mütter, die Mütter der Welt (Goethe hat dieses Treffen nicht ausgeführt), Faust trifft auf Mechthild von Magdeburg, die ihm – in der Natur, gesehen im Geist Spinozas und Goethes – das fließende Licht der Gottheit zeigt …
Faust Sonnengesang ist der Versuch, Bilder zu finden für etwas bisher kaum Sichtbares: für die tief in uns allen vorhandene Sehnsucht nach dem glücklichen Augenblick, von dem man wünscht, er möge ewig währen.
Im Kontext einer immer apokalyptischeren Welt stellt Faust Sonnengesang die Frage, was passiert mit unserem Leben, was mit unserer Gesellschaft, wenn wir unser Leben nicht mehr nur von unserer blutgetränkten Vergangenheit und nicht mehr nur von unserer durch Katastrophen geprägten Gegenwart her, sondern von der tiefen Sehnsucht nach einer menschenwürdigen Zukunft her sehen …
Auch im ersten Sonnengesang unserer Kulturgeschichte, dem Sonnengesang des Pharaos Echnaton, steht die Sonne als lebensstiftende, alles berührende Kraft im Zentrum. So ist auch in Faust Sonnengesang die Sonne das Symbol für das Zum-Leuchten-Bringen des untergegangenen Wissens oder auch nur für die in einem selbst verschütteten Erinnerungen an die schönen Augenblicke, die dem Vergessen anheim zu fallen drohen – im von der Informationsflut geprägten Alltag, im Rahmen von tagtäglichem Stress und tagtäglicher Sorgen …
In Faust Sonnengesang I, der Ouvertüre, sehen wir, wer spricht, wessen »jüngster Film« vor unseren Augen abläuft, auch sind alle Elemente, die den Film ausmachen, zugegen.
In den weiteren Teilen wird, was im ersten exponiert wurde, durchgeführt: ein Kontinent, gleichsam ein Finger der geöffneten Faust, steht jeweils im Vordergrund.
Das Filmgedicht Faust Sonnengesang ist der Versuch, den »jüngsten Film« bewusst zu gestalten. Der »jüngste Film« ist der Film, der abläuft, wenn wir die Augen für immer schließen. Das Ich dieses Films, stellvertretend für jeden, der diesen Film sieht, sieht naturgemäß Bilder des eigenen Lebens, Bilder der eigenen Träume und Alpträume …
Das »Faustische« an diesem Film ist die immer wieder von apokalyptischen Alpträumen unserer Gegenwart bedrohte Gnade, diesen »jüngsten Film« selber gestalten, also Träume – tiefeigene ebenso wie die kollektiven – und Augenblicke verewigen zu dürfen, zu denen man sagen will: »Verweile doch, du bist so schön …«
Werner Fritsch, Berlin, im April 2017
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