Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Weil Fußball in meinem Leben keine Rolle spielt, schaue ich nicht das letzte Gruppenspiel Deutschland – USA, sondern aus dem Fenster in den Innenhof. Da kickt gerade Samuel (13 Jahre) aus dem Vorderhaus einen Ball gegen die Wand.
Hey, Samuel!
Hey, Frau aus dem Hinterhaus!
Kann ich dich mal was fragen? Magst du Fußball?
Er lacht.
Blöde Frage?
Ja!
Wieso?
Jeder mag doch Fußball, also wenn WM ist.
Och, geht so bei mir.
Na, dann eben alle außer dir.
Und wieso schaust du das Spiel nicht?
Er deutet nach oben Richtung 3. Stock.
Stress mit deiner Mutter? Fußballguckverbot?
Ja.
Fies.
Find ich auch.
Ich komm mal runter.
Wir sitzen auf der Bank neben den Mülltonnen. Samuel und ich kennen uns seit sechs Jahren, seit ich hier eingezogen bin. Ich war damals spät dran, wollte zur Physiotherapeutin ein paar Häuser weiter, rannte also die Treppen runter, durch den Hof und den Vorderhausflur der großen Tür entgegen, die ich aufzog, fast hätte ich ihn umgerannt: Fahrradhelm noch auf dem Kopf, überdimensionierter Schulranzen, heulend stand er vor mir. Seine Mutter hatte vor der Schule nicht wie verabredet auf ihn gewartet, und er war allein mit dem Rad nach Hause gefahren.
Hast du keinen Schlüssel?
Wir hängten einen Zettel an die Haustür, und ich griff nach seinem Handgelenk und zog ihn hinter mir her zur Praxis. Er machte die Übungen mit, wir saßen auf Gymnastikbällen, drückten uns in Hockstellung mit dem Rücken gegen die Wand, dann flog die Tür auf, seine Mutter kam herein, rief laut und gellend das Wort STAU aus, und er stürmte in ihre Arme. Seitdem sind Samuel und ich Freunde.
Findest du Fußball richtig scheiße?
Nö, gar nicht. Ist mir nur nicht so wichtig.
Ach so. Krass! Samuel wirft den Ball gegen die Wand, und er federt zurück in seine Hände.
Ist es eigentlich uncool, Fußball nicht zu mögen?
Nee, aber cool auch nicht.
Wie ist das denn in der Schule, wenn WM ist? Gucken da alle?
Ja, auf jeden Fall. Den Mädchen ist z.B. Bundesliga und so voll egal, aber Public Viewing jetzt bei der WM, da gehen die schon hin. Manche flippen richtig aus.
Echt?
Ja, total. Die brüllen dann den und den Spieler an, der soll mal den Ball reinmachen.
Findest du das gut, wenn eins der Mädchen aufspringt, die Faust ballt und schreit: Mach ihn rein, Neuville?
Neuville?
Oliver Neuville, WM 2006, 2. Gruppenspiel gegen Polen, hat das 1:0 in der Nachspielzeit geschossen. Da ging das ja los mit dem Public Viewing.
2006 war ich 5!
Stimmt, sorry. Hab mich damals mitreißen lassen.
Du hast das geschrien?
Ja, ich geb’s zu. Macht ja auch voll Spaß.
Ey, Public Viewing gibt’s nicht schon immer?
Nee, erst seit damals. Davor hat man sich nicht getraut, das so öffentlich abzufeiern, sich Deutschlandfahnen ins Gesicht zu malen usw. Weißt ja, warum.
Nee. Ach so, ja, stimmt.
Wie wär das eigentlich, wenn das Mädchen, das du magst, Fußball doof findet?
Hm. Er überlegt. Kommt die dann nicht mit zum Public Viewing?
Kann schon sein.
Das wär scheiße.
Guck! Voll Gruppenzwang.
Wir lachen.
Und dein bester Freund, hast du nen besten Freund?
Bester Freund sagen ist schwul.
Weißt, was ich meine.
Ja, hab ich.
Und mag der Fußball?
Der spielt selber.
Hier in Kreuzberg?
Klar. Türkiyemspor. U 15 Mannschaft.
Bei der Blücherstraße der Bolzplatz der? Welche Position?
Stürmer, was sonst?
Und warum bist du nicht bei Türkiyemspor?
Bin ich ja, also, vielleicht. Er wird rot. Bei der Mädchenfrage ist er kein Stück rot geworden. Ich bin im Auswahlverfahren. Nächste Woche weiß ich, ob ich drin bin.
Vorgekickt?
Genau. Er grinst, wirft den Ball wieder gegen die Wand. Ist ganz gut gelaufen.
Hast du eigentlich auch Jungs-Freunde, die Fußball nicht mögen?
Nee. Auf keinen Fall.
Wär das ein Problem, also insgesamt? Ist man da draußen?
Ich glaub schon so’n bisschen.
Seit wann ist’n das so?
Keine Ahnung.
Ich frag mich das echt. Früher, also als ich so alt war wie du, haben meine Freunde und ich Fußball halt gehasst, so wie wir Boygroups gehasst haben oder die Republikaner, na ja, vielleicht nicht ganz so wie die Republikaner.
Die Republikaner?
Ja, die Partei. Kennst du die nicht?
Nö.
Das ist ja schön, dass du die nicht kennst! Ich glaub, das ging mit Fever Pitch los. Das ist so ein Buch über Fußball, also genauer gesagt geht’s darum, was es heißt, ein richtiger Fan zu sein. Nick Hornby heißt der, der’s geschrieben hat. Kennst du den vielleicht?
Nö.
Na ja, ich hab auch nur den Film gesehen. Der Roman kam Anfang der 90er raus und war so ne Art Bekenntnis. Ab dann war Fußball plötzlich nicht mehr nur was für Prolls, sondern auch ganz offiziell bei Leuten super, die damit vorher nicht hausieren gegangen sind. Was ich sagen wollte: Heute ist es schon ziemlich unpopulär, wenn man ehrlich sagt, ich interessiere mich nicht so für Fußball.
Andrea aus dem 2. Stock Vorderhaus durchquert den Innenhof. Hallo, sagt sie, und wir grüßen zurück. Laut scheppernd schmeißt sie mehrere Flaschen in die Altglastonne. Tschüss, sagt sie, und wir winken ihr zu.
Frau aus dem Hinterhaus?
Ja, Samuel?
Du hast nicht zufällig nen Fernseher?
Ich überlege, stehe auf und sage: Ball gegen Schlüssel, okay?
Draußen gehe ich an überfüllten Cafés vorbei. Flachbildschirme in allen Größen, kollektives Stöhnen, einmal Jubel. Ich steuere den Kanal an, kicke den Ball vor mir her und setze mich vor der Brücke ins Gras. Im Il Casolare weiter vorn ist die Leinwand so groß, dass ich auch von hier aus alles sehen kann.