I. MTSKHETA-MTIANETI
Der Große Kaukasus. Diese Berge. Man verwechselte Höhe und Tiefe, Aufsteigen und Hinabfallen, stand man in ihrer Mitte. Ihre Gipfel und ihre Täler fuhren auf einen zu und machten schwindlig, die Proportionen von Eis und Stein hoben einen heraus aus jenem Koordinatensystem, dessen Mittelpunkt immer das Stück Erde ist, auf dem die eigenen Füße stehen. Der Gasthof lag an der Georgischen Heerstraße – wer weiterfuhr, sah bald nach Russland. Der Wind schien das hölzerne Eingangstor geschlossen zu halten, wenn man sich mit ganzem Gewicht daran lehnte, war es, als stemmte sich gerade in diesem Augenblick eine Böe von der anderen Seite dagegen. Im Inneren konnte man die Tapeten mit den Fingern von den Wänden abziehen, die Feuchtigkeit schälte sie den Mauern herunter. In jedem der sechzig Zimmer fand man eine neue Farbe, die im Luftzug raschelte. Im Inneren wohnte der Wind, ein Höhenwind, der durch die langen Hotelgänge fuhr und durch die leeren Fensterrahmen fiel wie Licht, ein Wind, den keine Tür aussperrte, der das Haus aufblies und es noch größer machte, als es war. Die Unbehaustheit war gefüllt mit Geräuschen – dem unaufhörlichen Auf- und Zuschlagen der Türen, dem Quietschen der Scharniere – und in der Ferne gab es das kalte Panorama der Gletscher. Auf dem Boden des Erdgeschosses lag Stroh. Es war ein Hotel der Tiere, eine Herberge aus Wind, wenn man die Augen schloss, sah man vor sich, wie die Kühe sommers auf den hellblauen Badezimmerfliesen und unter den halb herabgekommenen Stuckdecken stehen würden, zwischen wehenden Tapeten, jede in ihrem eigenen Fremdenzimmer. Nur die oberen Stockwerke blieben stets leer, weil das Vieh keine Stiegen steigen konnte.
II. ACHMETA
Die dunklen Wolken waren voller Vögel. Es regnete. Hinter dem Gebäude stand im hohen Gras ein Kalb an einen Baum gebunden, starr wie eine Statue. Es war ein löchriges Haus, gerüsthaft, ausgedünnt, durchlässig, ein Schauobjekt der Abwesenheit. Man hatte dem Sanatorium nicht nur die Fenster und Türen, aber auch die Fenster- und Türstöcke ausgebaut, so dass man an jeder Ecke einsteigen konnte. Es gab keine Hindernisse, keine Bodenschwellen, eine für ein großes Haus beinahe ungenügende Trennung zwischen Innen und Außen. Das Gewitter hielt beide Seiten finster. Ein Stapel alter Patientenakten war umgefallen, und die letzten Blätter Papier waren bis in die Wiese hinausgerutscht. Alles, was man je ins Mauerwerk eingelassen hatte, war abgetragen und verschwunden, Staub bröselte aus den Löchern, und Insekten marschierten in den Rissen der Kupferleitungen durch die Gänge. Den Treppen, die die Geschosse verbanden, fehlten die Stufen. Wenn man im Dunklen nur lange genug einen Korridor entlangging, fiel man die leeren Liftschächte herunter. In den Krankenzimmern lagen leere Vogelnester und leere Nierentassen nebeneinander. Draußen schimpften die Amseln auf den Ästen im Regen über jeden Schritt, den man tat. Die Orte, die der Mensch aus der Hand gab, wurden stets zu jenen der Tiere. Draußen schrie die Kuh im Wetterleuchten. Draußen wartete das landschaftsweiche Kachetien, die Luft feucht und süß von der Akazienblüte.
III. BUSLUDSCHA
Auf der Spitze des Chadschi Dimitars stand ein Ufo aus Beton, vor dem ein Fuchs in der Morgendämmerung auf der Wiese jagte. Es war ein außerirdisches, graues Gebäude, von dessen Toren aus man weit über die bulgarischen Berge sah. Die Regierung hatte es gesperrt, aus Angst, es könnte einstürzen, seine Eingänge waren mit Vorhängeschlössern und Holzbrettern verschlossen worden, seine Fluchtwege mit Schutt gefüllt wie mit Korken. Durch einen Außenschacht im Boden stieg man an einem Seil ins Dunkle hinunter und folgte den Rinnen des Kellerlabyrinths gebückt, bis einen ein Treppenaufgang den Kopf heben ließ. Mit dem ersten Licht staunte man schon. Wer im runden, größenwahnsinnigen Herzen des Baus stand, befand sich in einer heruntergekommenen Arena. Sonnenstrahlen sanken wirr nieder und wanderten als Lichtpunkte durch den Raum. An den Seitenmauern fielen den Mosaikgesichtern alter Herren kleine Steine aus den Zügen und gingen mit einem hellen Klick zu Boden. Hammer und Sichel überdachten den Schauplatz. Ratten saßen stumm in den Ecken. Es war ein politischer Dom, die desolate Kathedrale des bulgarischen Kommunismus, in der einst Politiker in dunklen Anzügen aufeinandergetroffen waren und nur vom Siegen gesprochen hatten. Winzig klein schien man sich in ihrer Mitte und eigenartig zufrieden mit ihrem Ruin.
IV. SAGAREDSCHO
In der Geisterstadt des verlassenen Fabrikgeländes fanden sie, was jedes Kind einmal im Leben finden wollte: eine lebensgroße hellblaue Lokomotive im hohen Gras.