Wer liest noch, im Zug, im Bus und erst recht am Strand, bei der Hitze und Glut dieses Sommers, wenn die Buchstaben flimmern, die Lesergehirne glühen? Die Klagen allüberall, schrill und nicht abbrechend, die Gefährdung des gedruckten Buches, des Lesens; Leserschwund, Analphabetentum; um die Bücher kümmern sich nur noch die Motten. Und jetzt noch die Klimaerwärmung, die dem letzten Leser den Atem nimmt und ihn zum Bier bekehrt.
Auch mein umbrisches Dorf am See stöhnt unter der Hitze, gleiche Temperatur wie Palermo und Neapel. Das gefällt nur den Grillen und den Bierbrauern. Der Abendwind am See kühlt kaum, das Eis schmilzt schon an der Kasse. Die durchschnittliche Höchsttemperatur ist landesweit um 4 Grad gestiegen, meldet die Lokalpresse ins Sommerloch und rät zum Schattenbad im Keller oder zur Höhlenwanderung in den Abruzzen, keine Anstrengung, auch keine geistige. Schlechte Aussichten für Bücher. Die Maulwürfe nehmen zu. Und über Lesekompetenz verfügen eh nur noch die Finnen, weil die es kühler haben. Einer, der schreibt, blickt in die Sommerglut, entdeckt Mückenschwärme und Flurschäden, aber keine Leser. Er geht in sich oder wendet sich dem Fischfang oder der Grillenjagd zu, züchtet Radieschen oder Gummibären; kleinlaut wird er auf jeden Fall.
Und dann dies: Mitten auf der staubtrocken narbigen Wiese am See, wo die Mücken Siesta halten und eine Schaukel an einen Kinderspielplatz erinnert, steht eines Tages auf einem Pfahl ein kleines Häuschen, einem Karnickelstall nicht unähnlich, bunt bemalt, eine strahlende Sonne, Vögel im Flug, kleine Zeichnungen, kindlich verspielt. Besonders schön ist die eine: An der Angel eines Fischers hängt als Köder kein Wurm, sondern ein kleines Buch, und alle Fische des Sees schwimmen herbei, halten ein, andächtig still, wie sie einst dem Heiligen Franz von Assisi lauschten, lesen mit großen Fischaugen. Eine treue Lesergemeinde unter Wasser, denkt der Autor, seine Miene hellt sich auf, wenigstens das noch, und er nähert sich dem Objekt, liest, mit zunehmendem Staunen, den Satz im Blau: »Or ti riman, lettor, sovra ’l tuo banco« – Bleib sitzen auf deiner Bank, Leser, ein Dantesatz, unvollständig, es fehlt der schöne Zusatz: »dietro pensando a ciò che si preliba/ s’esser vuoi lieto« – nachdenken soll der Leser über das, was der Autor ihm da vorgelegt hat, damit er Freude daran habe. Der Autor steht und schweiget wie die Wälder im Norden jetzt in der Hitze des Südens, öffnet das Gittertürchen, späht nach einen Karnickel oder einem Blesshuhn, aber nein, tatsächlich sind da Bücher, vielleicht zehn oder zwölf, und das Wort sieht er jetzt auch, etwas klein: Biblioteca. Und er weiß, eine solche gibt es in diesem kleinen Fischerdorf am Trasimeno nicht, nur ein Schulzimmer für die Unterstufe, mit Kreidestummeln. Die Kirche hat Gesangsbücher und einen Wasserschaden an der Decke. Aber hier ist nun eine Bibliothek; am Fuß ist eine Holztafel mit Benutzungsvorschriften angebracht: Die Bücher sorgfältig zu behandeln, sie wieder zurückzulegen und allenfalls selber welche beizusteuern.
Der Blick durchs Türchen zeigt: Italienische Kinderbücher, aber auch Harry Potter, nur der dritte Band, Tabucchis Donna di Porto Pim in einer Sellerio-Ausgabe im dunklen Blau, besonders schön D’Annunzios Giovanni Episcopo, eine Ausgabe der Biblioteca nazionale, ein italienisches Pendant zu Reclam, für 30 Centesimi. Der letzte Satz lautet: »Entrò una rondine. Lasciate entrare … quella rondine.« Darüber könnte der Leser auf seiner Bank nachdenken. Auch deutsche Titel sind unter den Büchern, eine zerfledderte Taschenbuchausgabe von Peter Handkes Langsame Heimkehr, Christoph Heins Der fremde Freund und Guardinis Italienische Reisen, allerdings mit viel Sand zwischen den Seiten, körnig gewordenem Papier, mit Leseanmerkungen eines Touristen aus dem Sauerland, der auf Seumes Spuren zur Entenjagd auf dem Trasimeno angereist war. Ein Minibibliothek in der Tat, die meisten Bücher mit durch Feuchtigkeit gewellten Rücken, die Seiten staubgetränkt und wasserfleckig. Der Schreibende ist gerührt, denkt an die Fischlein im See, er plündert seine Gestelle, richtet im Vogelhäuschen eine neue Bibliothek Suhrkamp ein, terra-d’ombra-farben, das tiefe Ocker der Gegend. Da wären Bücher, eine Bibliohek, doch wer liest? Außer den Fischen unter Wasser? Manchmal späht er hin, verstohlen, wird seine Zweifel nicht los.
Dann eines Tages dieses Bild, ein beobachtetes, nicht ein erfundenes, das beteuert er: Ein früher Morgen am See, die Fischer schon auf der Rückkehr, ein Kind sitzt im Staub, blättert in einem Buch, der ausgestreckte Finger hüpft über die Seiten, entzückt, begeistert, so patscht es auch die Hände zusammen, lacht. Neben ihm die Mutter, in ein Taschenbuch vertieft, die Knie angezogen. Das Bibliothekstürchen steht offen, von einem Schmetterling umflattert, ein neugieriger Leser auch er, zweifellos, flügelschlagend um Buchrücken, getragen vom Wissen: Wir sind, was wir lesen.
Der beobachtende Autor ist entzückt wie das Kind, schon fast euphorisch, weiterschreiben, einfangen, was Ton, Bild, Rhythmus ist, Welt und Wirklichkeit, wie die Fischer, die ihre Reusen auswerfen und auf Fang hoffen. Und gleich beim Verleger einen Vorschuss einfordern, schließlich wächst die Zahl der Leser wieder. Das weiß er jetzt. Und die Verse hört er, von der großen Fracht dieses Sommers, die verladen ist: »… das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,/ wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit …«
Die Möwen kreisen und schreien und stürzen, Mutter und Kind lesen. Und sind nicht die einzigen: Zwei Männer treten hinzu, lesen, Gesichter, das Wetter, dann und wann auch ein Buch.
Die kleine Bibliothek wächst in diesen Tagen über das Gittertürchen hinaus, wird benutzt. Und das hat Folgen. Der Besitzer des nahen Strandcafés richtet in seinem Lokal ein ganzes Gestell ein: Bücher in allen Sprachen, einige Zeitschriften. Die Möwen schreien, die Fische schwimmen, und einige lesen – schön wie ein Märchen, aber nicht erfunden, sondern Wirklichkeit in einem heißen Sommer im Klimawandel, am Trasimeno, wo einst Hannibal mit seinen Elefanten die Römer schlug und der heilige Franz einen Löwen zähmte. Auch das steht zu lesen in Büchern hinter dem Gittertürchen. Und der Autor, noch immer mit Staunen auf die Biblioteca blickend, auf den Vorschuss wartend, mit Leberflecken und Sonnenbrand im heißen Tag, weiß wieder einmal, dass selbst seine kühnsten Erfindungen und größten Übertreibungen von der Wirklichkeit übertroffen und eingeholt werden: Denn eine karnickelstallgroße Bibliothek im Sand am See hätte er nicht erfinden können und eine bemalte schon gar nicht. Und so folgt er dem Satz des Alten Meisters: »O tu che leggi, udirai nuovo ludo« – jetzt hörst du, Leser, eine neue Geschichte. Und den Nachsatz hat er auch noch im Ohr: Jetzt denke selbständig weiter – »or pensa per te stesso«.