»Ich bin ja kein Fremder in Berlin, zurückgekommen nach sechzehn Jahren, jetzt verpflanzt in die Kolonie Grunewald, Villen und Bungalows in der Nähe kleiner Seen, deren Parkzugänge aber geschützte Grünanlagen sind, also öffentlich. Gleich beim ersten Nachtspaziergang eine böse Konfrontation mit einem Streifenpolizisten in einem kleinen Opel – er wollte mir befehlen, ins Bett zu gehen -, und dann habe ich angefangen zu fotografieren, mit Blitz, zwischen zwei und drei Uhr nachts. Gaslicht da oben und SUVs hier. Aalglatte Riesenvillen mit steilen, hellen Treppen zur großen Tür, irgendwie anonym.«
Various Small Grunewalds ist ein »small book« in der Tradition von Ed Ruscha, 22 schwarzweiße Fotografien mit Typo-Cover. Design von Steffen Kalauch, gedruckt von der Bookfactory in Bad Münder. Das Büchlein wird am Dienstag, dem 28. Juni in der Galerie pavlov’s dog vorgestellt.
Dies ist außerdem, wenn auch nur für einen Abend, eine Galerieausstellung mit vorzüglichen Prints an der Wand. Der Künstler Jörg Söchting liefert die Hocker, auf denen wir sitzen werden. Denn dies ist, natürlich, eine Nacht der Literatur, mit Lesung aus Traumprotokollen. Die schreibe ich seit einigen Jahren auf. Sie sind bisher unveröffentlicht.
Traum: Tillmans – sein Assistent – Herta Müller – Pastior (9. Oktober 2009)
Ich bin in die Produktion eines Künstlers geraten, in die ich plötzlich Einblick gewinne. Es geht um den Assistenten von Wolfgang Tillmans, einen jungen, bärtigen, nicht sehr großen Mann mit Schatten unter den Augen, den ich »von irgendwoher kenne«, wobei ich meine, im Wachen Jochen Volz wiederzuerkennen, der seit Jahren in der Kunstszene als Helfer oder Ausführender in Erscheinung tritt, ohne Zweifel in der Absicht, irgendwann eine Führungsposition einzunehmen (er ist allerdings weder kurz noch bärtig). Jedenfalls bemerke ich, dass der Assi seit geraumer Zeit Tillmans begleitet, überall, wo dieser fotografiert, auch fotografiert, so dass alle Locations doppelt bespielt erscheinen, auf manchen Fotografien ist Tillmans sogar als Akteur und in anderen soeben nicht im Bild; eine Art Schattenwerk. Dieses wird nun in der Produktion verglichen oder als Ausstoß des eigenen Labors ununterscheidbar, was mich als Kritiker – der ich hier doch bin – auf die Idee bringt, das Projekt zu hinterfragen. Erst frage ich den Assi und später, als Tillmans dazukommt, ihn, über die Breite eines Raums hinweg, fast schon öffentlich, ob nun nicht das Werk des Assistenten von seinem ununterscheidbar würde; und Tillmans hält in meinem Traum stand – zeigt sein unverwechselbares Standing –, indem er nicht den Assi kleinredet, durchaus etwas Gemeinsames bejaht; und doch implizit die Selbstbestimmung seines Werks, seine definierende Kraft nicht in Frage stellt. Die Quelle meiner Vorstellung davon, wie Tillmans redet, ist das Interview in Photonews vom Oktober, in dem er brillant die prekäre Rolle der Fotografie schildert und doch seinen Platz darin nicht anzweifelt – im Gegenteil sich als Vordenker zeigt.
Später, und das ist sogar die eindrücklichere Szenerie des Traums, beschäftigt mich dieselbe Sache, aber ich bin nun in einem amerikanischen Büro, und zwar im 48. Stockwerk, im obersten, eines Wolkenkratzers in New York. Dort gehe ich erneut der Frage nach, ob Tillmans’ Werk durch diese Art der Kooperation eigentlich singulär bliebe, ich bin da dran wie an einem Kunstkrimi – ein Fall, den ich lösen muss. Das Büro ist verdunkelt; vorn, an einer Art Schreibtisch oder Tresen, einige junge Frauen am Computer, Amerikanerinnen. Ich bearbeite ein Bilderkonvolut an einer Art Leuchttisch. Es ist ungeheuer leise da oben, man hört nichts mehr von New York (ich schlafe, während ich das träume, in einer Frankfurter Mansarde im 4. Stock). Dann gibt es da noch einen ebenfalls, ja pedantisch mit einer Art Gardinenfolie verdunkelten Nebenraum, in dem Cornelius Tittel arbeitet, der Chefredakteur von Monopol, mit dem ich tatsächlich in New York gewesen bin, von wo aus wir gestartet sind, um Ellsworth Kelly zu besuchen und zu interviewen. Dort hatte mir Cornelius verraten, dass er eine englischsprachige Ausgabe von Monopol plane (die aber bisher nicht realisiert wurde). Tittel ist wie immer völlig präokkupiert, kaum ansprechbar, aber dennoch ziehe ich ihn rein in das Tillmans-Thema; später in den Hauptraum zurückkehrend, entdecke ich, dass es ein eigentlich ein schäbiges Büro ist, mit Tapetenresten, die nicht richtig entfernt worden sind, osteuropäisch-shabby-chic, wenn man so will, nicht ganz klar, ob aus Mangel an Mitteln oder aus Absicht.
Das Motiv mit den Tapeten muss ich aus der Ausstellung Wir Kleinbürger, Teil 2 haben, die ich vor wenigen Tagen mit meiner soeben verwitweten Mutter besucht habe. Dort wird Sigmar Polkes Werk aus den siebziger Jahren gezeigt, als er sich (angeblich) vom Kunstmarkt zurückgezogen hatte und in einer WG arbeitete, vor allem mit einem Achim, dessen Zunamen ich schon vergessen habe, so dass in der Ausstellung die »credits«, wie man ja heute sagt, also der Autorennachweis, geteilt sind zwischen Polke und dem anderen Künstler namens Achim. Dennoch wird natürlich Polkes Name – ein singulärer Name, ein singuläres Werk – gebraucht, um die Ausstellung anzuschieben.
Eine andere Quelle des Schattenwerk-Motivs meines Traums könnte Herta Müller sein, die am Tag zuvor, also gestern, den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekommen hat, was mich natürlich beschäftigt. Ihr letztes Buch, Atemschaukel, erzählt von einem kommunistischen Lager aus der Perspektive Oskar Pastiors, der ihr viel darüber erzählt hat – am Anfang sollte es wohl sogar ein gemeinsames Buch werden – und dann starb. Er war in Frankfurt am Main auf einem Stuhl gestorben, den ich wenige Tage später zu sehen bekam, beim Buchmessenfest der Reicherts. Pastior sollte damals den Büchnerpreis bekommen (bekam ihn auch, aber, weil soeben gestorben, posthum). Müller scheint den ganz großen Preis für ihren Schattenkünstler mitzubekommen, die Schicksale aller verfolgten Osteuropäer; und ihre Fähigkeit und Möglichkeit, sprachlich, also erzählend, das Ganze jederzeit wieder aufzurollen, spielen dabei eine Rolle, so scheint es.
Insofern ist mein Tillmans-Assi zwar meine ureigene Traumerfindung, eine Rückübersetzung in das ältere Thema, in die Fotografie. Ich war Fotograf, bevor ich Schriftsteller war.
Vielleicht spielt auch mein Besuch bei Stephen Gill in London rein, den ich als Fotografen liebgewonnen habe und dessen vertikal gestelltes Foto aus Hackney Flowers auf dem Umschlag meines neuen Buchs Der Gegenspieler der Sonne. Gedankenklötze zu sehen ist. Sein Atelier befindet sich nur zweihundert Meter von dem von Wolfgang Tillmans, und mein letzter Gedanke – jetzt schon außertraummäßig, und ich sollte mich wirklich drum kümmern – war, dass Tillmans doch Gill für Monopol portraitieren könnte, für das Feature über Gill, das ich noch schreiben muss.
Ausstellung, Lesung, Buchpräsentation, Galerie pavlov’s dog, Bergstrasse 19, Berlin-Mitte, 28. Juni, 19 bis 22 Uhr