Vom Rücksitz eines riesigen Automobils, das vom amerikanischen Westen nach New York unterwegs ist bei Nacht: »Hans sah die großen, leuchtenden Signale der Tankstellen und Motels wegkippen in einen schwarzen Himmel, eine nicht enden wollende Parade des Abschieds, die hinter den Lidern nachflackerte, er eingerollt in einen brüchigen Quilt, Lavendel und Rosen.« Das sind natürlich alles zitierte Motive, wie sollte es anders sein. Hans, ein Schwede, am Ende einer ganz kleinen Karriere in der Musikindustrie Nordamerikas, längst ein erkennbares Opfer des Virus mit dem riesigen Namen, am Steuer sein Freund Kjell, der ihn zurückholt. Vom Rücksitz aus, liegend, sieht Hans zum letzten Mal das Land seiner Wahl – der kleinen, gegen seine gewalttätige Herkunft gewählten Freiheit – und dessen beruhigende Klischees. Wenn man es als Musikzitat nicht erkennt, sind »Lavendel und Rosen« die Motive des Quilts – der Quilt ist eine aus Motivquadraten kompilierte Decke, Produkt weiblichen Fleißes und volkstümlichen Empfindens in den Vereinigten Staaten.
Einmal, in einem Sommer, ich war zuvor in Oklahoma zur Schule gegangen und nun wieder Bewohner einer geduckten norddeutschen Siedlung, saß ich mit einem Freund im Wohnzimmer seiner Eltern, die verreist waren, Ledermöbel, dunkel, wir tranken (was wir damals für viel hielten, war wenig), hörten Musik aus einem kleinen Radio, das in der Küche stand. Oder es war nach dem Abitur, denn wir hatten soviel Zeit, dass sie sich anfühlte wie eine große Blase, in der wir schaukelten. Aus dem Radio kamen Songs von Simon & Garfunkel. Ab und zu ging der Freund in die Küche, man hörte das Rauschen bei der Wahl der Sender, und weiter ging’s. Offenbar hatten sich alle Sender verschworen, diese Musik zu spielen. Das ging lange so und ich war sehr glücklich. Irgendwann konnte er sich nicht mehr zurückhalten, er musste so sehr lachen… denn all diese Lieder kamen von einer einzigen Tonkassette. Das Rauschen vom Radio hatte er von Hand beigemischt.
Das wurde für mich zum Urmodell einer möglichen Erzählung: Ich dachte an ein Paar, das unterwegs ist in Amerika. Aus dem Radio (denkt sie) kommen diese Songs, von denen er sagt, das enthalte alles, was Amerika ausmacht, die Sehnsucht, das Versagen, das Abhauen, der Wunsch nach Größe, sich zu arrangieren mit der eigenen Flüchtigkeit. Jeder dieser Sänger weiß das, auf seine Art. Mal blechern und auf Speed; dann kristallin und darin nur noch ein Fauchen. All die Songs aber stammen (dachte der Autor, aber noch zögernd) von einem Band, einer Kassette, J. J. Cales Grasshopper wäre eine gute Vorlage gewesen. Neulich, als Cale starb, fiel mir die Matrix dieser Geschichte wieder ein. Wahrscheinlich bleibt sie ungeschrieben.
Die Songs aber werde ich dennoch nicht los. Ich entdecke den Matala-Song von Joni Mitchell wieder, und gleich nach dem Frühstück geht das los (ich meine, in meinem Kopf): »Maybe I’ll go to Amsterdam / Maybe I’ll go to Rome / And rent me a grand piano and put some flowers ’round my room«, das bleibt bei mir bis zum Abend, und jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob ich klassisch einen Entzug mache, nie wieder Mitchell, oder homöopathisch mit Überdosierung versuche abzuregeln, dreimal den Song hintereinander, ganz, ganz laut?
Mir ist kein Schriftsteller bekannt, der sich im Lärm niederlässt, um schreiben zu können, und ebenfalls keiner, der Musik abspielt bei der Arbeit.
Das, was man die »Musikalität der Sprache« nennt, ist rein metaphorisch. Ich glaube nicht, dass die glänzenden Pianisten unter den Schriftstellern besonders perlend schreiben oder dass der Lyriker mit dem untrüglichen Ohr für Vokale schwierige Melodien fehlerlos singen können muss. Insofern frage ich mich, was das Musikmotiv im literarischen Text wirklich bedeutet, oder anders gefragt, wohin die Metapher trägt.
Ich hatte vorgehabt, im letzten Drittel die Musik einzuflechten und lauter werden zu lassen, aber meine Heldin, Marleen Schuller, hat eine stille, visuelle Obsession. Das passte nicht. Das Kapitel über Hans und Kjell ist dann in meinen Roman Nichts Weißes gefallen wie eine Sternschnuppe. Insofern nimmt das Kapitel, das ich später schuldbewusst »Ein Umweg« genannt habe, alle musikalischen Motive in sich auf, ohne die ich quasi nicht leben konnte und Hans also mitgegeben habe. Mein Umwegkapitel wiederlesend, stelle ich fest, dass nur die Musikgruppe Abba mit Namen genannt wird, von den zwei Schweden im Scherz (und im Streit) mit der Fischdosenfabrik gleichen Namens in Verbindung gebracht. Zählt also nicht. Die anderen Musiker bleiben namenlos. Es heißt, »Unbedingt hatte Hans über Tulsa fahren wollen, wegen irgendeines Musikers, der von dort stammte.«
Aber zurück zu der Nacht, in der mein Freund mich einlullte in der Vorstellung, dass alle Sender im Radio immer die Lieder spielten, die ich in jener Situation – post-Abi, zeitlos, freundschaftlich gestimmt, angetrunken, entwurzelt – gerne hören wollte. Das Duo Simon & Garfunkel war für uns das, was für meinen Vater vielleicht Zarah Leander gewesen war, eher eine Erinnerung als eine Erfahrung. Anders aber Paul Simon selbst, der mich mit dreizehn abgeholt hat, wo ich war, und dessen Musik mich wahrscheinlich begleiten wird bis zur »mother and child reunion«. Erst als mein Freund vor zwei Jahren starb – also vierzig Jahre, nachdem ich den Song zum ersten Mal gehört hatte –, fiel mir auf, dass damit der Tod gemeint war. Mein Quiltmotiv ist von Simon geliehen: »When I see you smiling / When I hear you singing / Lavender and roses / Every ending a beginning«. Wer das Zitat auflösen kann, erkennt in der Decke des Sterbenden den Liebesgarten, eine esoterische Überblendung, meinetwegen.
Ein Magazin für Kunst und Leben hatte mich vor kurzem mit Lou Reed in Kontakt gebracht, der immer wieder von Rockjournalisten reingelegt wird und dieses Spiel und auch sie dafür hasst. Um ihn einzustimmen, brachte ich Nichts Weißes mit und erklärte ihm, dass die allerletzte Szene des Buchs in Downtown New York spielt, und ich übersetzte ihm, was ganz zuletzt meiner Heldin Marleen erscheint, vom ersten Stock auf den West Broadway herunter schauend im Dezember: »Es waren keine Autos mehr zu sehen, aber deren Spuren hatten sich in die verschneite Straße gezeichnet wie Notenlinien, Linien ohne Noten. Sie meinte, den Song bereits zu hören, wenn ihr auch nicht einfiel, wie er hieß. Sie würde schon noch drauf kommen.«
Wir hatten dann ein gutes Gespräch, das von allem möglichen handelte. Nur nicht von der Musik.