Diese Zettelnotierungpraxis von Friederike Mayröcker, diese Zettelnotierungsmethode besteht darin, dass Mayröcker Tag und Nacht Notizen macht, auf allerlei Zetteln, die sie über Wochen, Monate und Jahre hin ansammelt; die Zettel hängen an den Wänden, in den Bücherregalen, an den Türen, oder aber sie sammeln sich in Stapeln auf den Schreibtischen, in diesen berühmten Zettelstapeln im Zettelzimmer in der Wohnung in der Zentagasse, Wien, einer Wohnung, die eingerichtet und erschaffen ist, um zu schreiben, eine Installation, ein Arbeitsraum: Schreibtisch, Regale, Bücher, Papier und Blätter in Stößen, Stapeln, Bergen, also ein Papierzimmer, weiß, mit einer schwarzen Gestalt, mitten in all das Weiße platziert; schwarze Jacke, schwarze Hose, schwarzes Haar, das ist die Mayröckerfigur, sie schreibt, notiert auf all diesen Zetteln, die sich im Arbeitszimmer ansammeln, bevor Mayröcker für genau diesen einen Zettel eine Verwendung findet; ein Notat über einen speziellen Grünton, im Park beobachtet oder im Muster einer Tapete oder als Stoffstück in einem Kleid; und jetzt näht die Schriftstellerin diesen Zettel in den Text ein wie ein Stück Stoff in einen Flickenteppich, in dieses Mayröckergewebe von Farben, Düften, Erinnerungen, Gedanken, Lauten in Satzfäden, die gemeinsam eine Romanstickerei bilden, mit Abschriften aus Briefen, Zeitungsnachrichten, Gesprächen und Büchern in dem Webteppich eines Lebens, eines Schreibenslebens, eines Liebeslebens, eines Frauenlebens, zusammengesetzt aus Fetzen und Zetteln, eine Romanfigur und Mechanik, erschaffen durch diese Wienertechnik, diese Zettelnotierungsmethode, die Wittgenstein erfunden und die Mayröcker weiterentwickelt hat; eine Schrift, die sich über ein weites Gelände hin entfaltet, über das Unbekannte hin; den Roman.
Tomas Espedal, in der Nacht zum 5.6.2021, bevor er morgens von seinem deutschen Verleger die Nachricht vom Tod Friederike Mayröckers erhielt.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt Henkel, mit Erlaubnis des Autors.