»Man sollte sich vielleicht mit der Übertragung der Gedanken und der Haltung des Dichters begnügen.« So viel zu Brechts Ratschlägen an die zukünftigen Lyrik-Übersetzer: Der häufigste Fehler besteht darin, zu viel übersetzen zu wollen. Aber was könnte Brechts Empfehlung bedeuten? Welch Borgesʼsche Rekonstruktionsarbeit ist von einem gewissenhaften Übersetzer gefordert, um solch schwer fassbaren Dingen wie Gedanken und Haltungen auf die Spur zu kommen? Folgt aus dem gestischen Ansatz nicht gerade zwingend, dass Rhythmus und Reim und jedes andere Detail zur »Haltung« eines Gedichts gehören? Brecht selbst war bekanntlich äußerst wählerisch, wenn es um Übersetzer und Übersetzungen seines Werkes ging. Ganz besonders galt das für seine Gedichte. Die Arbeiten einiger seiner frühen Übersetzer bezeichnete er als »Katastrophe«. Vergeblich versuchte er, die Dienste von W. H. Auden oder die eines anderen berühmten Namens zu gewinnen.
Zu übersetzen erfordert stets eine sehr genaue Lektüre und Aufmerksamkeit für Details. Aber das Übersetzen von Lyrik ist ein Extremfall. Die Anzahl der Eigenschaften des Originals, auf die man achtgeben kann, ist, was auch immer Brecht darüber sagen würde, schlicht unbegrenzt. Das betrifft natürlich nicht nur Bedeutungen, sondern ebenso Assoziationen, entfernte Anklänge, Schatten anderer Texte. Ebensowenig geht es ausschließlich um Formen im offensichtlichsten Sinne: Vielleicht sucht man nach einem Äquivalent für ein bestimmtes Versmaß oder ein Reimschema, aber man möchte zugleich auch zum Beispiel die Häufung offener Vokale in dieser oder jener Zeile vermitteln oder die Dominanz von Metaphern brachialer Bewegung oder aus dem Lateinischen stammende Redewendungen. Auch etwas, ja tatsächlich alles, was man herauslesen kann, wenn man Zeile für Zeile kommentiert, verlangt nach der Aufmerksamkeit des Übersetzers. Lyrik zu übersetzen bedeutet immer auch, zu scheitern. Übersetzer sind sich stets der Details bewusst, die sie nicht haben einfangen können, wissen um die reichhaltigen Anspielungen und bedeutsamen Klänge, die sie auslassen mussten, so sehr sie sich bemühen mögen, Abhilfe zu schaffen, oder sogar eigene Assoziationen in ihre Übersetzung einzuschmuggeln.
In den letzten mehr als fünf Jahren haben David Constantine und ich Brechts Gedichte übersetzt. Im November wird bei Liveright, einem Imprint des US-amerikanischen Verlages W. W. Norton, ein neuer, mächtiger Band mit dem Titel Collected Poems erscheinen. Es war eine außergewöhnliche Reise: Gedicht für Gedicht, Zeile für Zeile, mal springend, mal schleppend durch all diese Sonette und Balladen und Chroniken und Psalme und Lieder. Den Vertrag hatte am 19. August 2013 Barbara Brecht-Schall unterzeichnet. Die späteren Schritte fanden unter den wohlwollenden Blicken von Johanna Schall statt, die sogar ihre Übersetzung einiger Gedichte aus Aus dem Lesebuch für Städtebewohner beisteuerte. Mittlerweile haben wir das Manuskript eingereicht, der erste Korrekturlauf ist gelesen: rund 1300 Seiten, über 1200 Gedichte (von denen ungefähr 500 nun zum ersten Mal auf Englisch erscheinen), 164 Seiten Anmerkungen, 133 Mal kommen Variationen des englischen Wortes für »Kampf« vor (Kampf, Kämpfer, kämpfen usw.) und nur 5 Mal das englische Wort für »Widerspruch«.
Sich derart eng mit diesen Gedichten zu umgeben war eine intensive und wunderbare Erfahrung. Brecht ist nicht nur ein Dichter von enormer Schaffenskraft, sondern auch einer von einzigartiger Fähigkeit und außergewöhnlicher Vielfalt, manchmal pointiert und dann plötzlich eigentümlich wortreich und schnörkelhaft. Wir sehen in ihm einen großzügig mitteilsamen Dichter, aber zweifellos kann seine Lyrik mitunter dunkel sein. Vor uns lag die Herausforderung, uns in unterschiedlichen Formen und Stimmen zu äußern, und in unserem Versuch, an Brechts sprudelnde Kreativität, sprachlichen Erfindungsreichtum und politische Empörung heranzureichen, haben wir mit unserer eigenen poetischen Sprache gerungen.
Eindringlich ist uns wieder und wieder klar geworden, wie aktuell diese Gedichte sind. Bei manchen können sich einem die Nackenhaare zu Berge stellen, als wären diese Zeilen gestern geschrieben worden. Zu unserer aller Schande leben wir noch immer in einer Welt, die Brecht ohne Umstände wiedererkannt hätte: einer Welt, in der Verfolgung, erzwungene Migration, Menschenhandel und Sklaverei zur Tagesordnung gehören, in der staatliche Gewalt, herumstolzierende populistische Führer und ungezügelter Kapitalismus im Aufstieg begriffen sind. Der »Spätkapitalismus« hat sich als überaus geschickt darin erwiesen, immer »spätere« und immer fürchterlichere Formen zu erfinden. »Der schöne Tag, wenn ich nutzlos geworden bin« ist noch nicht gekommen: »That will be a glad day when one can say: Put away the weapons, they are not needed!«
Wir brauchen Brecht, nach wie vor, in allen Sprachen.
Aus dem Englischen von Christian Heilbronn