Die Organisatoren des Lettrétage-Projekts ¿Comment! Lesen ist schreiben ist lesen erzählen im LOGBUCH-Interview von den produktiven Störungen in Momenten persönlicher Auseinandersetzung mit Literatur, einer lebendigen Literaturvermittlung und dem Konzept der Lesung als »polyphones Lesekonzert«.
Welche Idee steckt hinter dem Projekt ¿Comment!?
Wir verstehen ¿Comment! Lesen ist schreiben ist lesen als Pilotprojekt, das innerhalb und außerhalb des Schulunterrichts zeitgenössische fremdsprachige Autoren in Verbindung mit neuen Medien und mit Fokus auf den kreativen Vorgang des Lesens vorstellt. Im Vordergrund steht die Vielstimmigkeit möglicher Lesarten, wir fragen: Wenn das Werk des Autors der Text ist, was ist dann das Werk des Lesers? Welche Rolle spielt der Leser, wie kann diese Rolle reflektiert werden?
Die Suche nach neuen Wegen der Präsentation und Vermittlung von Literatur prägt das Programm der Lettrétage schon seit letztem Jahr, so fand beispielsweise im vergangenen Juni das SOUNDOUT! Festival statt. Im konkreten Falle von ¿Comment! steht der Leser im Mittelpunkt. Dabei bieten das Blogformat und die Nutzung mobiler Technologien einen guten Rahmen, um Literatur als Gegenstand von Kommunikation auf Augenhöhe stattfinden zu lassen.
Das zweite große Element des Projekts, der Blog, entwickelte sich aus der Frage: Welche Konsequenzen ziehen wir als Veranstalter eines Literaturhaus-Programms aus dem »Tod des Autors«? Wir wollen Künstler einladen, ihre Ideen und experimentellen Ansätze bei uns auszuprobieren. Dabei interessiert uns insbesondere die sinnliche Faszination, die Literatur in interdisziplinären Veranstaltungsformaten ausstrahlen kann. Kurz: Wir wollen bei ¿Comment! wie auch bei einem Großteil unseres übrigen Programms über den Rand des Wasserglases schauen.
¿Comment! lässt sich in zwei eng miteinander verknüpfte Phasen einteilen, die Blogphase und die Performancephase. Von September bis November kommentierten zehn »Profileser« und Schülergruppen (während ihres Fremdsprachenunterrichts) die Originaltexte der vier von den Kuratoren ausgewählten Autoren. Das Projekt trägt den Untertitel Lesen ist schreiben ist lesen und unterstreicht damit, dass nicht wir die Auswahl treffen, sondern die Kuratoren, die selbst als Autoren wiederum auch Lesende sind: Schreibende wählen als Leser, Leser lesen als Schreibende. Die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Produktion und Rezeption werden aufgelöst. Lesen ist ein ebenso kreativer Vorgang wie Schreiben, und wer schreibt, rezipiert ebenso wie ein Lesender. Lesen und Schreiben als zwei Seiten derselben Medaille »Literatur« – dieses Verständnis wollten wir den Schülern in der ersten Projektphase näherbringen.
In der zweiten Phase finden von den Kuratoren konzipierte Performances, Installationen, Aufführungen mit den Originaltexten und den Kommentaren dazu statt. Schüler- und auch Profileserkommentare sowie Originaltexte werden hierarchiefrei und lebendig in Bezug zueinander gesetzt. Die digitale Rezeption wird in analoge Aktion umgewandelt. Hierbei ist alles denkbar, von Rauminstallationen, die sich wie Gedichte lesen lassen, bis hin zu live inszenierten Autoren-Filmen oder Blackboxes für Zuhörer. Wir als Organisatoren freuen uns sehr auf diese Abende, denn wir sind sehr gespannt darauf, was die Kuratoren mit dem Projekt-Blog anstellen werden.
Wie habt ihr die Texte ausgewählt? Warum habt ihr euch für fremdsprachige Texte entschieden?
Wir haben die Kuratoren um die Auswahl englisch- oder französischsprachiger Autoren gebeten, weil wir gezielt aktuelle zeitgenössische Literatur in den schulischen Fremdsprachenunterricht integrieren wollen. Damit möchten wir bewusst den zumeist auf Klassiker konzentrierten Kanon schulischer Lektüre öffnen. Begreif- und erfahrbar soll werden, dass Literatur ein lebendiges Kunstwerk ist, das von in der Gegenwart lebenden Autoren geschaffen wird, die mit ihren Lesern die Zeitgenossenschaft – oder zumindest ähnliche Realitätserfahrungen – teilen. Wir möchten die Leser dazu einladen, sich anlässlich des ästhetischen Gegenstands Literatur über Wirklichkeit(en) auszutauschen. Der Fremdsprachenunterricht mit der ausgewählten zeitgenössischen Literatur zumeist junger Autoren wird dabei – so hoffen wir – als lebendige Kulturvermittlung erfahren. Die Schüler ahnen, dass Leben in den Vokabeln steckt. Ein weiterer interessanter Aspekt für uns war die zu erwartende »Beunfähigung« durch die Sprache – die Schüler waren aufgefordert, in der Fremdsprache zu kommunizieren, zu schreiben und zu lesen, die fremde Sprache gleichsam als Werkzeug zur Reflexion zu nutzen, gerade aufgrund ihres eingeschränkten Wortschatzes. In Bezug auf diese Herausforderung, über die eigene Lesart in fremder Sprache zu schreiben und zu diskutieren – nicht zuletzt mit den muttersprachlichen Autoren –, eröffnen die Kommentare ein Spannungsfeld von naiver Meldung beziehungsweise unvermitteltem Herangehen bis zu höchster Konzentration. Die Fehler, so unser Wunsch, sollten stehen bleiben, die Lehrer wurden beispielsweise gebeten, bei Grammatikfehlern nicht korrigierend einzugreifen. Wichtig ist uns nämlich der lebendige Sprachgebrauch, der Austausch. Im offenen Dialog wird der Selbstzweck der Vokabelpaukerei lustvoll torpediert.
Welche Rolle spielen die »Profileser«?
Die Profileser legen ihre Zugänge zu den Texten offen und stellen sie damit zur Diskussion. Die ausgewählten Schauspieler, Veranstalter, Autoren und Journalisten verbringen einen Großteil ihres beruflichen Alltags mit Literatur. Daher haben wir sie gebeten, ihre konkreten Lesarten der Originaltexte auf dem Blog kenntlich zu machen und herzuleiten. Damit zeigen sie den Schülern, dass ihre »Profi«-Meinung auch nur eine von vielen ist. Ein positiver Effekt für uns: Die konventionelle Literaturvermittlung im Literaturhaus wird dadurch reflektiert, denn jeder moderierende Verleger, vorlesende Schauspieler oder ein Podiumsgespräch führende Literaturkritiker greift bei einer Veranstaltung auf seine subjektive Lesart des Textes zurück. Die subjektiven Lesarten von Profilesern lenken von vornherein die öffentliche Wahrnehmung der Zuhörer bei einer Lesung. Genau diese Situation und die Rolle der vermittelnden Instanzen werden von ¿Comment! reflektiert.
Wie sehen Leserkommentare aus?
Insbesondere das im positiven Sinn naive, unbelastete Herangehen der Schüler hat uns begeistert. Dadurch, dass sie Literatur als 1-zu-1-Aussage ernst nehmen, entstehen ungewohnte, charmante Situationen: Literatur ist hier nicht nur Diskurs, sondern auch eine direkte Verbindung zur Realität.
Die Fülle der verschiedenen Herangehensweisen und auch die Reaktionen der Autoren auf die Schülerkommentare waren zum Teil verblüffend. Die Schüler haben beispielsweise Buchcover gestaltet, die Umgebung der zentralen Romanfigur weiterentwickelt oder durch Fotos illustriert; sie haben Handlungsverläufe neu geschrieben und eigene Gedichte als Antwort auf Gedichte des Autors verfasst, sie haben literarische Texte mit bekannten Popsongs vertont – und die Autoren haben darauf reagiert. Wir freuen uns sehr über den vitalen, direkten Austausch zwischen Profilesern, Autoren und Schülern. Wir sind den Autoren für die Beteiligung an der Vermittlung ihrer Texte dankbar, denn sie sind nicht als Autorinstanz aufgetreten, sondern als Gesprächspartner von vielen, als Meinung unter Meinungen (insbesondere bei Ross Sutherland).
Wie schwierig ist es, die Schüler zu beteiligen? Zwar muntert ihr sie auf mitzumachen und sagt, es gebe keine falsche Meinung zu einem Text, aber gibt es nicht auch ein großes Begehren der Lesenden, Texte richtig zu verstehen?
Angesichts der verkürzten Schulzeit und ausführlicher Curricula war es anfangs eher schwierig, die Lehrer zu begeistern. Doch die Lehrer, die sich dann auf dieses Experiment abseits ihrer alltäglichen Herangehensweisen eingelassen haben, haben wiederum uns begeistert. Die Schüler waren nach der ersten Anlaufphase erstaunlicherweise kaum mehr zu stoppen und haben noch in ihren Herbstferien weiterkommentiert.
Überrascht hat uns nicht nur das oft hohe Niveau, auf dem sie sich mit den Originaltexten auseinandergesetzt haben, sondern auch die Offenheit gegenüber lyrischen und anspruchsvollen epischen Texten. Im Vordergrund stand nicht die Frage, was will uns der Autor sagen, sondern was sagt mir sein Text? Und warum sollte man immer mit einer Interpretation auf literarische Texte antworten? Warum nicht mit einem Gedicht, einer Fotoserie oder einem Bild? Genau das hat die Schüler angespornt. In den Kursen und auf dem Blog konnten sie sich die Texte der Autoren buchstäblich aneignen, sodass sie ihnen nicht (mehr) gleichgültig waren. Umso spannender war es dann, die ersten Begegnungen zwischen Schülern und Autoren zu erleben: zuerst in der geschützten Umgebung eines nicht-öffentlichen Gesprächs am Nachmittag und anschließend in einer großen öffentlichen Abschlussperformance, in der viele Kommentare als Teil eines Gesamtkunstwerks präsentiert wurden.
Wir wollen durch ¿Comment! den Schulen die Möglichkeit geben, neue Medien künstlerisch in den Unterrichtsprozess einzubinden, und zugleich den Schülern eine Öffentlichkeit für ihre Werke bieten. Aber wir wollen das Bedürfnis nach der »richtigen« Lesart nicht bewerten. Es handelt sich ja um eine sekundäre kulturelle Prägung, der wir alle ausgesetzt sind. So wie es aussieht, herrscht nicht nur im Feuilleton erhöhter Bedarf an Instanzen. Wir kritisieren dieses Begehren nicht, wir wollen es vielmehr torpedieren, wir wollen produktive Störungen in den Rezeptionsabläufen befördern. Generell versuchen wir mit der Lettrétage, Räume zu schaffen, in denen Autorität keine Rolle mehr spielen muss, in der mit ihr gespielt werden kann.
Was dürfen wir im Rahmen der Live-Performances erwarten?
Die Performances beziehungsweise Installationen übertragen den digitalen Literaturdiskurs in die analoge Welt des Literaturhauses. Polyphonie ist dabei ein wichtiges Element, die Leser zeigen sich als Autoren, die Kommentare werden als literarische Texte gelesen und aufbereitet, als Material, das ebenso wie die Originaltexte von den Kuratoren ästhetisch weiterverarbeitet wird.
Die Kuratoren Aurélie Maurin und Christian Filips haben für die Performance mit Christian Prigent am 27. November beispielsweise eine Kulisse aus kleinen Séparées entworfen, in der Künstler verschiedener Sparten ihre Lesarten der Gedichte Prigents präsentieren, unter ihnen die französische Sängerin Vanda Benes und der Leiter des Staats- und Domchors an der Universität der Künste Kai-Uwe Jirka. Klangkommentare und entstehende Livekommentare vermischen sich in diesem Labyrinth der Gattungen mit Videoprojektionen, Blaulicht, gesungener und gesprochener Sprache. Wir freuen uns auf Abende, die die Verbindung von Text und Leserstimme versuchen, zugleich eine Vielfalt von Veranstaltungsformaten auffächern und damit die ästhetische Faszination und Strahlkraft von Literatur sinnlich erfahrbar machen. Von den Veranstaltungen wird live gebloggt und getwittert (#lesenistschreiben), so dass weitere Perspektiven entstehen und der Lesungsbesucher auch wieder als Leser und Autor involviert ist. Öffentlichkeitsarbeit über Social Media verstehen wir hierbei als weitere Lesart, Dissemination als inhaltliche Dimension. Wir fragen uns: Was für Räume können entstehen, wenn man die klassische Literaturhausszenerie auflöst? Wie verhält sich der Leser, wenn er mit allen Sinnen Texte rezipieren kann?
Wie geht’s weiter?
Gern möchten wir das Projekt weiterentwickeln, mehr Schulen und Schüler involvieren, die Kooperation zwischen Literaturhaus und Schule ausbauen und dieses Modell der Literaturrezeption im Unterricht nachhaltig verankern. Ob dies tatsächlich geschieht, hängt selbstverständlich nicht zuletzt von den Förderern ab, denen wir an dieser Stelle auch mal danken wollen (den größten Teil der Förderung des Pilotprojekts übernahm der Hauptstadtkulturfonds).
Wir verstehen den Blog als Work in Progress – dieses Projekt ist nicht abzuschließen, wir empfinden keinen Bedarf, zum Punkt zu kommen. Wir sehen das Projekt als Anfang und nicht als Ende, der Weg ist das Ziel, wir bleiben dran!
Es antworteten: Katharina Deloglu und Christian Gröschel