»Kriminalromane« gehören in die Warengruppen 120 (Spannung), 121 (Krimis, Thriller, Spionage), 122 (Historische Kriminalromane) – buchhändlerisch gesehen. Und nicht in die Warengruppe 110 und folgende. Dort findet man »Erzählende Literatur« aller Art. So gesehen wären »Kriminalromane« und »Literatur« verschiedene Dinge. Aber pragmatische Abstraktionen sind noch lange keine literarischen oder ästhetischen Kategorien. Was auch niemand im Ernst behauptet. Aber was doch Verwirrung stiftet.
Machen wir ein Experiment: Auf dem Umschlag, unter dem Titel Davenport 160×90 von Sybille Ruges Roman steht nicht, wie ursprünglich geplant und angekündigt, »Kriminalroman«, sondern »Roman«. Warum? Nicht, weil sich der Text bis zur Endfassung wesentlich verändert hätte. Als Kriminalroman wurde er vom Verlag eingekauft, seine Parameter »Mord«, »schmutzige Geschäfte« und »knallharte Hauptfigur« geben unübersehbar deutliche Hinweise. Mehr noch: Die Inkasso-Betreiberin Sonja Slanski ermittelt, aber eher in einem Fall von Wirtschaftsverbrechen. Wer ihre, wie sich herausstellt, Halbschwester Luna umgebracht hat, findet sie eher zufällig heraus. Auch da, womöglich noch deutlicher »Krimi« – eine falsche Spur, red herring und so, Sie wissen schon. Zudem: Dass Davenport 160×90 unter meiner Herausgeberschaft erscheint, ist – zumindest für die paar Leute, die sich für derlei interessieren – ein Hinweis auf »Kriminalroman«.
Warum machen wir das? Weil ich zunehmend den Eindruck habe, dass »Krimi« ein derart fatal lenkender Begriff geworden ist, der die Potentiale und Möglichkeiten von Kriminalromanen unter sich begräbt. »Krimi« ist inflationär geworden, diese ganzen Halden von Belanglosigkeiten, die unter diesem Label laufen – nicht nur in der Literatur, sondern in jeglicher Art medialer Darreichungsformen. Ich kann es kaum jemandem übelnehmen, wenn sie/er davon nichts wissen will. Wobei es schon ein Unterschied ist, ob man aus Ennui an dem allzu oft Angebotenen zu diesem Schluss kommt oder ob man der stets wiederkehrenden argumentativen Keule (im agnotologischen Sinn) folgen will, die nach fast hundert Jahren Genre-Geschichte immer noch mit dem alten Taschenspielertrick arbeitet: »Ich lese keine Krimis«, daraus folgt zwar: Ich habe keine Ahnung, aber »ich weiß, dass Krimis doof sind«. Also bin ich gebildeter, geschmacksicherer, weil ich etwas nicht kenne. Gegen diesen infamen Zirkel ist kein Kraut gewachsen. Obwohl er auch erklärbar ist: Ein guter Kriminalroman und ein schlechter Krimi sehen auf den allerersten Blick gleich aus. So wie ein guter und ein schlechter Roman auf den ersten Blick gleich aussehen können. Aber: Ein guter Kriminalroman ist ein guter Roman. Ein schlechter Krimi kann aus vielen Gründen schlecht sein. Wie soll man das jedoch erkennen, wenn man keine Kriminalromane liest? Erschwerend kommt hinzu, dass es harte Kriterien für »gute« Kriminalromane nicht gibt – sondern nur die alltagssprachlichen Plattitüden, dass ein Krimi »spannend« zu sein habe, also Suspense bieten müsse. Das ist sehr subjektiv. Ich finde zum Beispiel den Ulysses sehr spannend, und wenn man nicht wüsste wie’s ausgeht, hätten auch Macbeth und Richard III. ziemlich viel Suspense. Wer Onkel Toby in der Bibliothek ermordet hat oder ob der böse Serialkiller am Ende von der tüchtigen Polizistin erlegt wird, interessiert mich nicht die Bohne, wenn es nur und zwar nur darum geht. Wie gesagt, eine höchst subjektive Kategorie und somit ziemlich wackelig. Die anderen Scheinkriterien sind auch nicht belastbarer: Krimis befassen sich mit den »Schattenseiten« der Gesellschaft – das tut jede Sozialreportage; Krimis zeigen die »Abgründe der menschlichen Seele« – nach der Gewaltgeschichte des 20. und, wie’s aussieht, auch des 21. Jahrhunderts, mon dieu. Krimis sezieren die Gewaltverhältnisse zwischen den Geschlechtern – da lacht ja die Katze auf dem heißen Blechdach. Und so weiter und so fort. Natürlich spielen alle diese Elemente eine Rolle, aber es sind keine Alleinstellungsmerkmale für Kriminalliteratur.
Spätestens jetzt kommt das Argument, Krimis folgten besonderen Regeln, es sei ihre Form, die ihren Charakter ausmache. Das ist vermutlich der fatalste Irrtum von allen. »Krimi« ist keine Form (wie ein Sonett etwa), sondern höchstens ein fast unüberschaubares, ausdifferenziertes und nuanciertes Set von Erzählkonventionen. Zwischen einem Roman von Agatha Christie, Blind Man with a Pistol von Chester Himes und Aidan Truhens Fuck you very much liegen Welten. Und Regeln gibt es auch nicht wirklich. Noch nicht einmal die berühmten Postulate der »Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman (Father Knox’s Decalogue)« wurden von irgendjemandem je ernst genommen, auch schon damals nicht, im kriminalliterarischen Neandertal. Zudem: Wer sollte solche Regeln und »Versatzstücke« (dieses Wort fällt meistens sofort an dieser Stelle), mit denen Krimis der avancierteren Sorte angeblich so gerne spielen, autoritativ und verbindlich aufstellen? Deswegen gibt es auch keine kanonischen Werke der Kriminalliteratur, die irgendwie konsensual wären, nicht mal Conan Doyle, Chandler oder Highsmith. Es gibt, natürlich, Merkmale auf der inhaltlichen Ebene, die einer bestimmten Menge von Texten gemeinsam sind – sie definieren das, was man Subgenres nennt: den Cosy, den Hardboiler, den Psycho- oder den Polit-Thriller, den feministischen Realismus oder den Blödel-Krimi. Aber was für die eine – meist marketinginduzierte – Sortierung gilt, gilt schon für die andere next door nicht mehr. Über die jeweils literarische Organisation solchermaßen definierter Texte sagt das alles gar nichts. Aber diese literarische Organisation sagt einiges über die Qualität der Romane, im Guten wie im Schlechten.
Dennoch scheint das paratextuelle Wörtchen »Krimi« stark genug zu sein, um die Lektüre zu präformieren. »Krimi«, historisch nicht ganz korrekt, aber de facto der »populären Kultur« zugeordnet (oder den arts moyens wie Jazz, Comic und Film, falls es jemand gerne bourdieusch haben will), zielt auf eine sehr breite Leserschaft. Ihr Beitrag zur Demokratisierung von »Lesen« ist nicht ganz unerheblich. »Krimi« senkt die Hemmschwelle vor dem Kulturgut »Buch«. Oder hatte zumindest historisch gesehen dieses Potential. Diese Qualität macht Krimis auch heute noch verlegerisch attraktiv. Dass Kriminalromane auch in den rohen, schmutzigen, oft vulgären Pulps wurzeln, machte sie zu einer »Literatur von unten«, eine Perspektive, die sie in den besten Fällen bis in die Gegenwart beibehalten. Gerne übersehen wird dabei eine weitere Wurzel, die besonders, aber nicht nur für den europäischen Kriminalroman konstitutiv ist: der Dadaismus und Surrealismus, das geht von Fantômas über Walter Serner und Friedrich Glauser, über den Nouveau Roman bis hin zu Autoren wie Stephen Greenall und ist dann allerdings nur noch bedingt »populär« im strengen Sinne. Aber das nur nebenbei.
Wichtig ist, dass die Power des Begriffs »Krimi« historisch gewachsen ist. Und so etwas ruft Antagonismen auf den Plan. Der traditionellen bildungsbürgerlichen Verachtung des »Leichten«, der ihrerseits die oppositionellen Positionen von Brecht, Benjamin und Bloch bis Heißenbüttel gegenüberstand, folgte seit den 1990er Jahren ein fast beispielloser Boom auf dem Buchmarkt, der schlussendlich durch eine schon fast inflationäre Präsenz von »Krimi« in allen medialen Formen ein Rezeptionsmuster erzeugte, das mit vielen konkreten Texten nicht mehr kongruent ist. Die Einzelausprägungen verschiedenster, individueller Kriminalromane werden durch das überwölbende und übertäubende Label »Krimi« unsichtbar gemacht. Man kann zum Beispiel Marie Rutkoskis Real Easy als Serialkiller-Roman lesen. Man kann ihn aber auch als Roman über die Gewaltverhältnisse zwischen den Geschlechtern oder über die Autonomiebestrebungen von Frauen in marginalisierten und prekären Arbeitszusammenhängen verstehen. Als Roman eben, in dem unter anderem auch ein Frauenmörder vorkommt. Wählt man die Krimi-/Thriller-Lesart (ich mache keinen Unterschied zwischen diesen Begriffen, weil es keine konsensfähige, belastbare Unterscheidung gibt), bezieht man alle Komponenten des Romans auf die Suche nach dem Mörder. Daraus entsteht ein sehr eindimensionales Verständnis des Erzählten. Man hat den nebensächlichsten Aspekt zur Dominante des Romans gemacht. Und das ist schade, denn der Reichtum des Buches liegt in den verschiedenen, sehr unterschiedlichen und nuancierten Porträts der handelnden Frauen. Stände nicht »Thriller« auf dem Cover – die Rezeption wäre anders, die Identität des Frauenmörders nicht die entscheidende Frage. Warum dann aber doch »Thriller«? Weil ein Mörder in einem solchen Umfeld einfach die misogyne Gewalt auf den Punkt personifiziert. Weil Kriminalromane die Qualität haben, gesellschaftlich schlimme Verhältnisse literarisch zu bearbeiten. In Marie Rutkoskis Roman heißt die Welt in der Nussschale »Lovely Lady« und ist ein Stripclub. Ähnliches gilt für Jacob Ross’ Die Knochenleser. Als »Krimi« gelesen, ein Roman über leicht verschrobene Forensiker und Polizist:innen auf einer kleinen Karibikinsel. Als »Roman« gelesen, ein vielschichtiger, hochkomplexer und sprachlich ausgefeilter Roman mit einer Perspektive auf die postkoloniale Karibik, die dezidiert nicht touristisch ist, sondern die Gewaltgeschichte dieses Teils der Welt sozusagen »forensisch« anhand der erzählten toten und lebendigen Menschen reflektiert – weil Ross ein großartiger Autor ist –, abseits aller Klischees, voller überraschender und origineller Figuren, mit intelligenten Konstellationen, scharfem politischem Bewusstsein, berstend vor local knowledge und deswegen im besten Sinne unterhaltend. Der Unterhaltungswert, dessen sich kein Buch der Welt schämen muss, leitet sich aber nicht aus der Komponente »Krimi«, sondern aus der Qualität des gesamten, nicht auf eine Komponente reduzierbaren Romans her, der eben auch ein Kriminalroman ist. Und dennoch, weil auch diese Formel aus der Gruselkiste des Feuilletons an dieser Stelle regelmäßig auftaucht, keinesfalls »mehr als ein Kriminalroman«. Weniger als ein Kriminalroman kann meinethalben ein »Krimi« sein, aber »mehr als ein Kriminalroman« geht nicht, weil ein guter Kriminalroman ein guter Roman ist, der das Kerngeschäft von Kriminalliteratur betreibt: sich literarisch mit der Verfasstheit dieser Welt auseinanderzusetzen. Unter der Prämisse, dass in allen Gesellschaften schlimme Verhältnisse ubiquitär bis konstitutiv und keine einzelnen Skandale sind, und mit der Konsequenz, dass die handelnden Personen mit eben diesen schlimmen Verhältnissen konfrontiert sind. (Da liegt übrigens ein Unterschied: Kriminalromane erzählen von unangenehmen Dingen, die nun mal da sind. Blödel- und Wellness-Krimis erzählen auch von solchen Dingen, aber als angenehme Dinge, die zum Amüsement da sind.)
Alles andere obliegt der Kreativität der Autor:innen. Und weil Literatur immer auch aus und gegen Literatur entsteht, befindet sie sich nolens volens immer im Dialog mit der Tradition ihrer jeweiligen Erzählstrategien, affirmativ oder kritisch. Und diese Tradition heißt nun einmal Crime Fiction (dieser Terminus nur, damit man alle medialen Formen mitdenken kann, die ebenfalls für das Genre konstitutiv sind).
Die Formel »mehr als ein Kriminalroman« ist ein sehr vergiftetes Kompliment, das impliziert, dass es ein höheres Ziel gebe, nach dem der Kriminalroman zu streben habe, wenn er ins Reich des Seriösen, des Guten und Wahren und Schönen aufgenommen werden möchte. Eine üble Falle, denn erstens sind die Künste schon lange nicht mehr schön (falls sie es je waren), und zweitens wäre ein so gedachter »höherer« Kriminalroman sterilisiert, wenn er seine scharfen Ecken und rostigen Kanten, seinen Schmutz, seine Gewalt, seinen Horror und seine Traditionen suspendierte, um nicht in den Verdacht des Vulgären oder Trivialen zu geraten.
Apropos Trivialität: Als sicherer Hinweis auf Trivialität gelten gemeinhin »Klischees«. Nicht, dass es keine Klischees gäbe, aber um ein Klischee zu sein, muss zumindest ein lebensweltliches Substrat existieren, das das Klischee plausibel macht. Klischeehaftigkeit zu monieren sagt aber oft etwas anderes: die Unkenntnis bestimmter Lebenswelten, die als besonders kritischer Blick gegenüber dem Erzählten gewendet wird. Berlin Heat von Johannes Groschupf zum Beispiel porträtiert fast naturalistisch die Glücksspielszene, deren Figuren, deren Jargon mit einer Präzision, die man so noch selten gelesen hat. Wer aber den Roman mit der Erwartungshaltung Krimi = trivial liest, neigt dazu, die schmierigen Gesellen aus den Daddelbuden und Spielhöllen für das übliche Schurken-Casting zu halten und nicht für eine bestimmte, sehr wohl existierende Welt, zu der auch Groschupfs Loser-Figuren gehören – so wie in Berlin Prepper und seinem demnächst erscheinenden Roman Hyänen.
Womit wir bei einer weiteren Rezeptionsblockade via Labeling wären: Groschupfs Romane gehören eindeutig in die Reihe der Berlin-Narrative von Alfred Döblin, Christopher Isherwood, Erich Kästner, Pieke Biermann etc. – alles Texte, die man mit etwas gutem Willen auch als innovative, nicht formatierte Kriminalnarrative bezeichnen könnte. Groschupfs Romane sind definitiv keine »Berlin-Krimis«, sondern Kriminalromane, die den Sound dieser Stadt kreativ verwenden, um Berlin zu porträtieren, zu deren Panorama die von Groschupf thematisierten Lebenswelten notwendigerweise gehören. Wobei »in der Reihe von …« nicht heißt »so wie«. Es geht um den eigenständigen, ästhetischen Beitrag, den seine Romane ausmachen, so wie Döblins Montagetechnik innovativ und originell war.
Allerdings sind solche literaturgeschichtlichen Verzerrungen und Verengungen im Zusammenhang mit Kriminalliteratur nichts Ungewöhnliches. Eine Literaturgeschichte New Yorks etwa, bei der zwischen John Dos Passos und Paul Auster, Jerome Charyn, Thomas Adcock und Jerry Oster nicht stehen, ist grotesk falsch. Ein Konstrukt der Tradition schwarzer Romane von James Baldwin und Richard Wright bis James McBride und Colson Whitehead ist ohne Chester Himes ahnungslos. Eine Literaturgeschichte Argentiniens wäre ohne Rodolfo Walsh undenkbar, eine Mexikos ohne Paco Ignacio Taibo II fatal. Die label-basierte Rezeption von Literatur richtet schlicht und einfach Flurschäden an und verzerrt Wahrnehmung. Sagen wir mal so: Wer label-geleitet liest, verzichtet selbstverschuldet auf literarischen Reichtum, intellektuelles Vergnügen und ästhetische Erkenntnis, auf Wissen und ungewöhnliche Sichtweisen.
Aber zurück zu Sybille Ruges Davenport 160×90 und der Bezeichnung »Roman«. Dahinter steht schon eine gewisse Provokation, die wir uns seit der Bezeichnung von Merle Krögers Die Experten als »Thriller« programmatisch erlauben. Na ja, oder ein Anreiz. Wir wissen schon, dass das Buch ein Kriminalroman ist, aber auch einer, der geeignet ist, Scheuklappen wegzureißen. Es wäre blöd, das Buch nicht zu lesen, wenn »Krimi« draufstünde, und es wäre blöd, es nicht als Kriminalroman zu erkennen, nur weil’s nicht draufsteht. Insofern glauben wir fest an die mündigen Leser:innen, denen wir die Erfahrung der ästhetischen Qualitäten von Kriminalromanen nicht verbauen möchten, und an die Leser:innen, die ahnen, dass die unendlichen Ausdifferenzierungen des Genres »Kriminalroman« auch ohne Label einen Text als solchen erkennbar halten. Sonja Slanski hat es schließlich mit einem ganzen Set von Verbrechen zu tun, von Mord bis zu schlechtem Geschmack. Und wir wären auch nicht böse, wenn Sie diese Notizen als programmleitendes Interesse verstünden.