»… wobei ich Sie bitten muss, das Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten selbst innewohnt, wenn sie wiedererzählt werden, mit gläubiger Nachsicht zu beurteilen« (Gottfried Keller, Regine)
I
Als Merle Kröger mir im Januar 2018 ihr Projekt Die Experten zum ersten Mal für mein kriminalliterarisches Programm skizzierte, war ich zunächst und sofort von Setting und Thema überzeugt: Ein Roman über bundesdeutsche Ingenieure, Raketenforscher und Flugzeugbauer in ägyptischen Diensten, ausgerechnet in den frühen 1960er Jahren, als die Bundesrepublik Deutschland gerade dabei war, ihr Verhältnis zu Israel zu »harmonisieren«. Dass einschlägige deutsche Spezialisten, die allesamt einen NS-Hintergrund hatten, sowohl von der Sowjetunion als auch von den USA rekrutiert worden waren, ist allgemein bekannt. Das gilt nicht unbedingt für diese spezifische »Egyptian Connection«. Ein historischer Polit-Thriller also, der ein Schlaglicht auf ein unbehagliches, in der Breitenrezeption eher verdrängtes Thema zu werfen versprach. Allerdings hege ich ein robustes Misstrauen gegenüber Romanen, die dominant über das Thema kommen. Bei diesem Thema lag die Sache ein wenig anders – mein Vater gehörte selbst zu diesen »Spezialisten«, die für die NS-Rüstungsindustrie HighTech konstruierten, hatte sich aber nach 1945 sehr bewusst einem unverfänglichen Zweig der Elektro-Industrie zugewandt, dennoch hatte ich so eine persönliche Beziehung zu Merle Krögers Projekt. Natürlich sind, andererseits, persönliche Befindlichkeiten keine Argumente für ein literarisches Projekt. Für die Realisierung von Die Experten sprach aber der Umstand, dass ich Merle Krögers Werk und auch ihre filmische Zusammenarbeit mit Philip Scheffner genau und seit den Anfängen kannte und also wusste, dass ich keinen konventionellen »Polit-Thriller« bekommen würde.
II
Der Polit-Thriller und die Kriminalliteratur insgesamt befinden sich seit einiger Zeit in einer Art »Innovationskrise«. Vielleicht sogar in einer Sinnkrise, ganz gegenläufig zu ihrem großen ökonomischen Erfolg beim breiten Publikum. Das hat mit dem Bedürfnis des Marktes nach immer mehr unterkomplexen Texten zu tun (die politischen Implikationen von unterkomplexen Narrativen scheinen mir evident) und als Reaktion darauf mit dem Kinderglauben, dass man nur »emanzipatorische« Inhalte und Figuren einsetzen müsse, um sie an dasselbe Publikum zu bringen. Natürlich kann man politisch korrekt designte Kriminalromane (je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Blase, resp. »Zielgruppe«) produzieren, die konventionell erzählt sind. Dann aber schleppt man die ideologischen Muster der Erzählkonvention mit sich, die sich aus unterkomplexen Schemata herleiten, beziehungsweise diesen implizit sind. Die zugrunde liegende Idee, dass sich Kriminalliteratur wegen ihrer Popularität dazu eigne, sich in Diskurse einzumischen, ist zwar prinzipiell richtig, funktioniert aber nicht, solange man Diskurse irgendwie emanzipatorisch »umbesetzt« und ansonsten in den alten semantischen Strukturen belässt.
Speziell der Polit-Thriller leidet darunter, dass seine einst skeptisch-subversive Methode, die Wahrheiten hinter den offiziellen Wahrheiten zu demaskieren, indem er die »offiziellen« Narrative demontiert, dementiert oder verhöhnt, zur Blaupause von autoritären Strategien (Stichwort: Fake News) geworden ist. In ihrem Nachwort zu Die Experten reagiert Merle Kröger genau auf diesen neuralgischen Punkt: »Wir leben heute in einer Ära, in der unzählige solcher historischer Wahrheiten gleichzeitig produziert und schon im Moment ihrer Entstehung wieder diffamiert werden. (…) Es scheint sich als politische Praxis zu etablieren«.
III
Die Experten durchbrechen dieses Dilemma. Die Methode des Romans ist, verlässlich einmal mehr bei Merle Kröger, die »artistic research«, die »künstlerische Forschung«, die nicht zuletzt auch die Klammer zu ihrer Filmarbeit mit Philip Scheffner. »Künstlerische Forschung« heißt in diesem Fall die Amalgamierung zweier Diskurstypen: Den Roman, mit allen seinen fiktionalen Freiheiten, und die historische Forschung, mit allen ihren Quellen, Archiven, Akten, Zeitzeugenbefragungen, Foto- und Filmmaterial und anderen Werkzeugen der Historiographie unter penibelster Quellenkritik, nicht als Antagonisten zu verstehen, sondern als einen gleichgerichteten narrativen Prozess, zwecks Erkenntnisgewinn (worunter auch ästhetische Erkenntnis verstanden werden soll). Während in konventionellen historischen (Kriminal-)Romanen oder historischen Polit-Thrillern (à la Volker Kutscher oder Robert Harris) die als gegeben präsentierten historischen Verhältnisse als Kulisse dienen, in die eine »Handlung« einmontiert wird, sind die historischen Materialien (hier: nicht die historischen Umstände) in Die Experten Agenten des Narrativs, die innertextlich mit den Figuren des Romans quasi sozial interagieren, in welchen Modifikationen und Relationen auch immer.
Auch nicht zu verwechseln ist Merle Krögers Methode der »artistic research« mit der klassischen Montage, deren »Schock«-Effekt Peter Bürger beschrieben hat als »Mittel, um ästhetische Immanenz zu durchbrechen und eine Veränderung der Lebenspraxis der Rezipienten einzuleiten«1. Eine solche wirkungsästhetische Funktionalisierung der Montage, man könnte sie fast agitatorisch nennen, wie sie auch im Kontext von Brecht und Benjamin gedacht war, würde im Falle der Experten zu kurz greifen. Die Montage dient hier eher zur Herstellung eines »erzählten Polylogs« (Bachtin)2, in dem nicht nur die »Stimmen« des historischen Materials hörbar werden, sondern eben auch deren Einstellungen, Werte, Ideologien und Intentionen im Romantext mitmischen. »Der Text«, notierte Roland Barthes »ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen«3. Die, wieder im Sinne Bachtins, »fremde Rede«, die Merle Kröger in jeder BND-Akte, in Songtexten, in Zeitungsnotizen oder Briefen aufruft, impliziert auch immer »eine konkrete soziale Konfiguration von Sprechenden«4. Das begründet ihre Fähigkeit zur quasi-sozialen Interaktion, oder mit den Worten Bachtins: »Die Sprache des Romans ist ein System von Sprachen, die sich gegenseitig dialogisch beleuchten«5.
IV
Die Experten, der Roman über das Erwachsenwerden der anfangs 15jährigen Rita Hellberg, die mit ihrer Familie nach Kairo zieht, wo ihr Vater als »Spezialist« beim Aufbau einer ägyptischen Luftwaffe helfen soll, ist anhand von Fotoalben organisiert. Schnappschüsse oder Tableaux, die die Entwicklung der jungen Frau zeigen, aber nicht ihre »innere Entwicklung«, ihre zunehmenden Zweifel an der moralischen Dimension der Arbeit ihres Vaters, die sie schließlich in die gefährliche Nähe geheimdienstlicher Aktivitäten treibt, und die von ihr existentielle Entscheidungen verlangen. Seine immense, keinesfalls nur »innere«, Spannung bezieht der Roman allerdings nicht aus einem konventionellen Plot, paradoxerweise. Rita Hellberg ist keine Protagonistin, deren »Abenteuer« oder Aktionen die Handlung vorantreiben, die in Intrigen oder Machinationen eingesponnen wäre. Sie reflektiert nur andauernd ethische Optionen, die ständig durch die Kontexte neu formatiert werden. Sie begreift das kosmopolitische Kairo der 1960er Jahre als Befreiung von der spießigen BRD, nicht ohne den Status von Frauen in der ägyptischen Gesellschaft zu übersehen, sie kann den offenen Rassismus ihrer Eltern nicht ignorieren, gleichzeitig ist sie ihrer Familie, besonders ihrem Vater, loyal und emotional verbunden. Und sie realisiert immer klarer die Ungeheuerlichkeit, dass Nazis oder sich als »unpolitisch« begreifende Ingenieure, die begeistert dem NS-Staat zugearbeitet haben, an einem Projekt freudig mitwirken, das deutlich gegen Israel gerichtet ist, wobei die offizielle Politik der Bundesrepublik genauso opak ist, wie deren Aktionen hinter den Kulissen. Und wiederum andererseits kann sie auch den Stolz der Ägypter verstehen, aus dem Status eines »Schwellen-« oder »Entwicklungslandes« herauszukommen, während sie die berechtigten Interessen Israels im Blick hat, aber über die realpolitischen Methoden aller beteiligten Player entsetzt ist, und wegen des Todes ihres ägyptischen Lovers konkret leidet. Man könnte sagen: Rita Hellberg wird von der (Welt-)Geschichte gehetzt, das macht den Thrill und den Suspense des Romans aus. Und das erklärt den Generierungsmechanismus des Buches.
VI
Wenn Merle Kröger fiktionale Personen und historisches Material gleichberechtigt interagieren lässt, wird es schwierig sein, eine Erzählinstanz festzustellen. Natürlich könnte man die Rita-Hellberg-Passagen als auktorial respektive personal bezeichnen. Aber wie steht es dann um die historischen Texte, die BND-Akten etc.? Wer »erzählt« die, wer spricht da, zumal dieses Material extrem heterogen ist, also auch extrem heterogene Äußerungsintentionen hat. Dennoch ist es narratives Material, »Sprechgattungen« (nach Bachtin). Briefe, Akten etc. nennt Bachtin »Primärgattungen«, die einen direkten »Wirklichkeitsbezug«6 haben – Akten beziehen sich auf einen Vorgang, Briefe auf eine kommunikative (etwa antwortheischende) Situation. Um aber überhaupt in eine interagierende Position zu gelangen, d.h. in Kontakt mit den fiktiven Figuren, also um Teil des Romans zu werden, müssen sie einen »Transformationsprozess« durchlaufen, den man mit Bachtin so beschreiben kann: Primärgattungen »verlieren ihren unmittelbaren Wirklichkeitsbezug (auch wenn sie formal erhalten bleiben) und beziehen sich dagegen auf die Wirklichkeit nur über die Vermittlung durch das Romanganze, d.h. als literarisch-künstlerisches, aber nicht als Alltagsereignis«7. Wobei der Clou im Falle der »Experten« darin besteht, dass bei diesem spezifischen Transformationsprozess die Primärgattungen gerade nicht fiktionalisiert werden. Das verhindert, dass es zu einer »Fiktion des Faktischen« kommt, und damit wird auch das »Vetorecht der Quellen« (beides nach Reinhart Koselleck8) relativiert. Die kategoriale Unterscheidbarkeit von expositorischen und fiktionalen Texten wird somit brüchig, wenn man beide als nicht konkurrierende narrative Optionen betrachtet. Ein Phänomen, das Albrecht Koschorke in seinen »Grundzügen einer Allgemeinen Erzähltheorie« beobachtet hat, und das in seiner Allgemeingültigkeit weit über Die Experten hinausweist: Dem Erzählen lässt sich »kein fester Ort innerhalb der kulturellen Bedeutungsproduktion zuschreiben … Uneindeutigkeit hinsichtlich der Alternative wahr/unwahr betrifft also nicht nur den Inhalt der jeweiligen Einzelgeschichte, sondern ganz allgemein die kulturelle Gültigkeit der symbolischen Transaktionen, bei denen von der Technik des Erzählens Gebrauch gemacht wird«9. Die Potenz dieser Beobachtung erweist sich in ihrer schon fast unheimlich idealen Applizierbarkeit auf Die Experten und sie zeigt, wie avanciert dieser Text tatsächlich ist. Artistic research, eben.
VI
Nach dem bisher Gesagten bleibt erst recht offen, wer den Roman erzählt, aber »die Einheit eines Textes hängt keineswegs von der Einheit einer identifizierbaren Zentralinstanz ab«10. Sein Flow, seine Rhythmik, seine Dynamik, sein Gestus und sein Ton synthetisieren den Roman. Auch wenn dadurch die Instanz »Erzähler« aus dem Spiel genommen scheint, so ist doch der Autor, in diesem Fall die Autorin – sorry, Roland Barthes – nicht tot. »Er/(sie,TW) befindet sich in dem Organisationszentrum der Überschneidungen von Ebenen. Die verschiedenen Ebenen sind auch unterschiedlich weit von diesem Autorenzentrum entfernt«11, wie M.M. Bachtin feststellt. Identifizierbar ist er/sie, über sein/ihr »ethisches Verhältnis« zu seinem/ihrem Stoff, seinem/ihrem Werk, beziehungsweise über ihrem/seinem »Standpunkt«, eben »jenem, den er bei der Gestaltung des Erzählprozesses in einem jeweils konkreten Werk bezieht«12.
Merle Kröger hat für Die Experten einen historischen Stoff gewählt, dafür muss sie produktiv mit dem »kulturellen Gedächtnis« hantieren. Das »kulturelle Gedächtnis« aber ist ein uneindeutiges, nicht fest beschreibbares Ding. Aleida Assmann hat zwischen »Funktions-« und »Speichergedächtnis«13 unterschieden, wobei das Funktionsgedächtnis uns bei der Bewältigung des Alltags hilft, das Speichergedächtnis Disparates, Heterogenes, Ungeordnetes, Verdrängtes, Vergessenes, Falsches (Stichwort: false memory) unsystematisch und rumpelkammerartig ablagert. Diese Sedimente verschwinden aber nicht, sie können aktiviert werden, zum Beispiel durch »artistic research«: »Das Erzählen macht hier also in reichem Maß von seiner Lizenz Gebrauch, die Schranke zwischen Faktizität und Fiktion zu überspielen«14. Gerade »heiße Themen« – im Fall der »Experten« Nahost, die Rolle der Bundesrepublik, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus – beziehen in literarischer Bearbeitung ihre Triftigkeit nicht aus ihrer schieren Aktualität, sondern aus ihrer ästhetischen Inszenierung. An der Stelle kommt das »kulturelle Gedächtnis« ins Spiel, denn es hat »die Aufgabe den Lebenden Vergangenheitsfiktionen zu liefern, die von Nutzen sind, um praktische Zwecke in der Gegenwart zu verfolgen«15. Und in den praktischen emanzipatorischen Zwecken enthüllt sich das »ethische Verhältnis« der Autorin zu ihrem Werk und definiert dessen Aktualität, das dann alles andere ist als museal. Dadurch hat sich das »Erzählen nicht in das Reservat der Schönen Künste einsperren lassen«16 – die Trennung von Logos und Mythos funktioniert nicht, die Dichter dürfen in der Polis bleiben, wie Koschorke sarkastisch anmerkt.
VIII
»Die praktischen Zwecke in der Gegenwart«, von denen Koschorke spricht, sind nicht an konsistente Narrative gebunden. Sie sind auch selbst unendlich divers. Sie können Identität stiften, Identitäten vernichten, sie können Teleologien aufbauen, sie können Kontingenzen feiern, Inklusion und Exklusion legitimieren, Hegemonialansprüche begründen und bezweifeln, ad infinitum, je nach Bedürfnislage. Narrative kennen per se keinen Zwang zur Sinnstiftung, sie können auch zur Sinnzerstäubung dienen. An diesem Punkt kommt die Gattung »als wesentliches Konstituens der Kultur«17 ins Spiel. Das gilt erst recht für Genres, aber diese Diskussion muss ich hier nicht führen. Eines der Kerngeschäfte der Kriminalliteratur und ganz speziell des Polit-Thrillers ist die Suche nach einer Wahrheit hinter der Wahrheit, ein Verfahren, das, wie Luc Boltanski18 gezeigt hat, immer nahe der Paranoia siedelt. Die Forcierung dieser »zweiten Wahrheit« als eigentliche, wahre Wahrheit, ist ein zweiter Einfallswinkel für Paranoia, wenn diese »zweite Wahrheit« ihrerseits konsistenz-sinnstiftend und kontingenzausschließend sein soll, was meistens zu monologisch-autoritativen Narrativen führt. Und von monologisch zu monomanisch ist es nicht weit.
Die Experten ist jedoch nicht einfach ein Polit-Thriller, der spekulativ hinsichtlich der Geschichte (als History) verfährt, und eine verborgene Wahrheit, ein Masterplan, eine klandestine, aber konsistente Machination hinter den Ereignissen favorisiert, die wir nur falsch in unserem Speichergedächtnis abgelegt haben, und deren Aktivierung neue Erkenntnisse produzieren könnte. Die Experten bleibt dennoch in der Gattung, im Genre. Mehr noch, dieser Roman belebt es. Weil er Story und History nicht als lineare Narrative begreift, sondern als Verhandlungsraum über persönliche, biographische Wahrheiten und über historische Ereignisse, die als gegenseitig interdependent, aber diffus inszeniert sind. Ausgang offen. Diese konsequent auf sämtlichen Ebenen durchgezogene Skepsis gegenüber Makro-Wahrheiten, ohne deswegen einzelne »Wahrheiten« wie Lebensschicksale zu suspendieren, ist, recht eigentlich, die gattungsmäßige Aufgabe des Polit-Thrillers. Deswegen ist Die Experten ein Polit-Thriller sui generis, revitalisiert durch Merle Krögers Methode.
Eine Vorabveröffentlichung aus Band 23 der Reihe Texte zum Dokumentarfilm zum Werk von Merle Kröger und Philip Scheffner, der von der Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW herausgegeben wird und im Sommer 2021 im Verlag Vorwerk 8 erscheint.