Ich lernte Ricarda Huch im Kellergeschoss einer Universitätsbuchhandlung kennen – und mit ihr, den Zweifel zu lieben.
Auf dem Campus einer kanadischen Universität stieß ich vor einiger Zeit – fachfremd und zufällig – auf den Semesterapparat eines Seminars, das sich mit dem Thema Terrorismus in der deutschen Literatur beschäftigte. In der Gesellschaft Heinrich von Kleists und zeitgenössischer Autoren wie Anna Mitgutsch und Christoph Peters fand sich dort auch Ricarda Huchs Der letzte Sommer – eine Erzählung in Briefen.
Eine der faszinierendsten Autorinnen deutscher Sprache war mir bis dato tatsächlich unbekannt gewesen. Thomas Mann verehrte sie als »erste Frau Deutschlands … wahrscheinlich heute die erste Europas …«. Abgesehen von ein paar Straßennamen, Schulnamen und einer Sonderbriefmarke erinnert heute wenig an die Schriftstellerin, Philosophin und Historikerin, die als eine der ersten deutschen Frauen promoviert wurde – das war im Jahr 1892 in Zürich, als Frauen in Deutschland noch kein Abitur machen durften – und die ein beeindruckendes künstlerisches Werk hinterließ.
Der letzte Sommer führt uns ins revolutionäre Russland des frühen 20. Jahrhunderts, die Zeit der »zartfühlenden Mörder«, wie Albert Camus die ersten russischen Terroristen nannte. Die Erzählung erschien im Jahr 1910 und präsentiert die Innenansicht eines terroristischen Akts – gleichberechtigt erzählt aus der Perspektive des Täters und der Opfer. Der Plot ist denkbar einfach: Ein Revolutionär schleust sich als Sekretär und Leibwächter in die Familie eines Gouverneurs ein, mit dem Ziel, diesen zu töten. Nach drei Monaten führt er die Tat mittels einer Bombe aus, die er in der Schreibmaschine des Gouverneurs platziert hat. Die Handlung wird allein durch Briefe vorangetrieben, die der Attentäter und die Familienmitglieder schreiben.
Mir ist irgendwann aufgefallen, dass die Protagonisten Musterbeispiele für Menschen sind, die »unfähig sind zu zweifeln«. Der schweizer Psychoanalytiker Mario Gmür prägte diesen Ausdruck, um auf die Gefahren krankhaft überzogener Überzeugungen aufmerksam zu machen. Nicht der sogenannte Kampf der Kulturen sei seiner Meinung nach das wirkliche Problem unserer Zeit, sondern die zu sehr Überzeugten: Sie unterdrückten ihre Zweifel, würden irgendwann unfähig zu zweifeln und ordneten sich schließlich einer fatalen Überzeugung unter. Hauptsache, sie müssten Ungewissheit und Mehrdeutigkeit nicht mehr ertragen.
Ricarda Huchs Terrorist überwindet seine Zweifel, indem er sich in Fatalismus flüchtet und den Zielen der Revolution unterordnet. Seine Unfähigkeit zu zweifeln, lässt ihn schließlich zur Tat schreiten. Im Fall der Opfer verhält es sich genau umgekehrt: ihre Unfähigkeit zu zweifeln lässt sie untätig bleiben und damit den Attentäter unbewusst »gewähren«. Der Gouverneur ordnet sich Staat und Pflichterfüllung unter – und denkt gar nicht daran, seine Politik in Frage zu stellen, die die intellektuellen Reformer kritisieren. Die Verfolgung und Hinrichtung von Aufständischen bereitet ihm ebenfalls keine Skrupel. Frau und Kinder des Gouverneurs machen Bewunderung für den jungen Sekretär und Autoritätshörigkeit blind für die drohende Gefahr. Und so schlafwandeln Täter und Opfer im Gleichlauf in die Katastrophe.
Ricarda Huch drängt uns dank der neutralen Erzählperspektive keinen moralischen Standpunkt zur Bewertung der Tat auf. Die Leserinnen und Leser müssen sich ihre eigenen Gedanken machen und ihren eigenen Zweifeln stellen. Ich lese Der letzte Sommer als großes, zeitloses Plädoyer für den Zweifel. Es richtet sich nicht nur an jeden einzelnen von uns, unsere Überzeugungen zu hinterfragen und Zweifel (selbst-)bewusst zuzulassen (Mario Gmür spricht von einer ethischen Pflicht und einer Ethik der Lebenskunst des Zweifelns). Es geht auch ums noch größere Ganze: um Demokratie und die »Tugend der Skepsis« zur Ermittlung von Wahrheit und Humanität (Reiner Prätorius) im Prozess gesellschaftlicher und politischer Erneuerung.
Ricarda Huch und Der letzte Sommer waren für mich Zufallsbekanntschaften. Seither liebe ich sie – und liebe den Zweifel.
Liebe den Zweifel
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