»There’s no time here, not any more.« – Mark Fisher
Vielleicht hat selten jemand Foucault so konsequent und düster zu Ende gedacht wie Mark Fisher, vielleicht hat es auch kaum jemand wirklich ausgehalten, ihn so zu Ende zu denken, wie man sagt, zu Ende denken, wenn es das überhaupt gibt, etwas zu Ende zu denken, jemanden zu Ende zu denken, überhaupt etwas irgendwann zu Ende zu denken – vielleicht sollte man auch einfach viele Gedanken lieber erst gar nicht zu Ende zu denken, damit man sich selbst nicht aus Versehen dabei auch noch zu Ende denkt, vielleicht ist das aber auch schon eine Spur der Macht, dass wir bestimmte Gedanken nicht zu Ende denken, weil wir wissen, was auf uns warten würde, würden wir einen bestimmten Gedanken bis an sein Ende durchspielen.
Vielleicht hat also selten jemand so konsequent die Machtproblematik an ihr Ende gedacht, wenn alles von Macht durchzogen ist, wenn die Macht erst einmal alles durchtränkt hat, wird jede Bewegung systemerhaltend, ist jeder Ausbruch, jede Kritik nur Reminiszenz, Zitat, im schlimmsten Fall Pastiche, leerdurchdrehende wutschnaubende Wiederholung ohne eine jede Differenz, ohne eine jede Dekonstruktion, Wiederholung als Selbstzweck, um die Kiste am Laufen zu halten, während die Yuppies feuchtfröhlich Amok laufen und heftiger feiern als sich das eine jede Bohème mit ihrer Syphilis in ihren versifften Hotels je erträumt hätte. Die härtesten Parties schmeißen heute die Slim Fit Warrior, sei es auf Ibiza, irgendwo auf einem Balkon von der Größe eines Fußballfelds in der Skyline Londons oder Barcelonas. Ein All Nighter jagt den nächsten, dazwischen eine Orgie mit ein paar Emissionszertifikaten, eine Woche in einem Hotel mit zwei, drei CumEx-Experten und auf einer Yacht mit russischen Influencern, und dann völlig durchgerockt wieder ein paar normale Bürotage dazwischen, wozu hat man sonst einen All-In-Vertrag ausgehandelt, der keine Stunden, keine Zeit mehr kennt, nur noch den Rhythmus des Kapitals, also noch kurz ein paar High Frequency Tradings, daneben ein smoothes High Intervall Training und ein Low Carb Drink hinterher und dann zwitschern auch schon die nächsten News rein von einem neuentdeckten tropischen offshore Markt und hey, ich kenne den Seller, und du kennst den Buyer, und let’s meet at this club, share a drink and buy, buy, buy – am besten schon mit Terminkontrakten, die jetzt schon aus der Zukunft Geld abpumpen, weil die Gegenwart schon völlig leergepumpt im Kreis rumläuft, fuck this, wer immer diese Orgie gerade feiert, gezahlt wird sowieso erst irgendwann in fünfzig Jahren.
Gleichzeitig fast spiegelverkehrt die Kunstwelt: Ein Betrieb mittlerweile so perfekt durchgetaktet, dass man sich fast an fordistische Verhältnisse erinnert fühlt. Man weiß, was gerade zieht, das wird in Serie produziert, einmal rumgeschickt und dann endlos wiederholt, bis es sich selbst nicht mehr hören und sehen kann, dann der nächste Hype, dazwischen ein Feld aus upcoming Hot Shit, Next Big Things, andauernd kurzfristige Hypes und Aufreger, denen gar keine Zeit mehr zugemutet wird, sich oder ihre Welt und ihre Idee von der Zeit zu entwickeln. Die bildende Kunst, die guten alten Genies mit ihren guten alten Weltentwürfen und ihren guten alten langwierigen Entwicklungen liegen heute in schönen neuen Freeport Art Storages im extraterritorialen steuerlichen Nirgendwo. Kunstwerke im Wert von 100 Millionen Euro und wohl an die 1000 Werke alleine von Picasso liegen zum Beispiel im Geneva Freeport Art Storage, und die versprechen gar nichts mehr, außer neue Rekordpreise, wenn sie in zwanzig Jahren wieder mal für eine Auktion hervorgezerrt und gleich wieder als Anlage – und Geldwäscheobjekt weggesperrt werden. Und die Gegenwart produziert nur noch für die eigene Factory – die Marke ist etabliert, der Betrieb hats akzeptiert, jetzt gibt man zeitnah die Entwürfe ab, schaut, dass der Kasten hält und versucht nicht abzustürzen – weil nach unten wird die Luft erschreckend rasch erschreckend dünn.
Horizontloses Plateau der Spätmoderne oder the slow cancellation of the future, wie Mark Fisher sagt, der eigentlich Pop-Theoretiker war, und sich die Frage gestellt hat, warum Musik aufgehört hat, neue Sounds zu kreieren, wann und warum in aller Welt wir uns eigentlich daran gewöhnt haben, aufgewärmte Semmeln von vorgestern als authentische Erinnerungen an eine Zeit zu genießen, wo offensichtlich noch eine Art Verheißung, die Möglichkeit einer anderen Welt in der Musik ausgedrückt wurde – »why did the arrival of neoliberal, post-Fordist capitalism lead to a culture of retrospection and pastiche?« Wenn die Macht erst einmal alles durchtränkt hat, wird jede Bewegung systemerhaltend, wird jede Regung abgenickt, wird die Erwartbarkeit, die Vorhersehbarkeit wichtiger als das Außergewöhnliche (man will ja die Märkte nicht durcheinanderbringen) – dieses Fantastische, Außergewöhnliche, das wir gar nicht mehr bereit sind zu denken, das wir uns schon gar nicht mehr vorstellen können.
Wie auch Zukunft heute noch denken? Wie etwas völlig Unerwartetes denken, in einer Zeit, die Vergangenheit und Zukunft gelöscht hat und sich seither in einem Loop aus Gegenwart befindet, der sich immer aggressiver, immer schneller dreht und in dem eine Retrowelle die nächste jagt. Ausgelöscht wurde darin die Zukunft als Entwurf eines anderen, gerechteren, besseren Zusammenlebens. Besser bedeutet ja heute nur noch optimiert und effizienter, also das gleiche von vorher, nur eben verbessert, aber auf keinen Fall etwas völlig anderes, etwas womöglich zuerst einmal überhaupt nicht Nachvollziehbares, das die effizient geschmierten Produktionskoordinaten durcheinander schmeißt (oder diese beschissenen, heiligen Märkte in Unruhe versetzen): »retro offers the quick and easy promise of a minimal variation on an already familiar satisfaction«, wie es in dem Buch Ghosts of my Life heißt, einem Band voll mit Texten und Essays, die zuerst auf seinem Blog k-punk in den frühen 00er Jahren veröffentlicht wurden.
Diese Kopfschmerzen bereitende Ambivalenz von Verweigerung und Innovation im spätkapitalistischen Künstlerselbstverständnis: Auf der einen Seite sich der Verpflichtung verweigern, sich andauernd neu erfinden zu müssen, interessant bleiben zu müssen und auf der anderen Seite eigentlich das Bedürfnis und der Wunsch von außen, aber doch bitte identifizierbar zu bleiben, schon die gute alte Coca Cola zu bleiben und nicht Red Bull zu werden und nebenher immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen in immer kürzeren Produktionszyklen zu bedienen, weil ja, um im Theater zu bleiben, das Feuilleton den Hype, die Premiere, das Neue und die vermeintliche Innovation sucht. Die man, kaum darauf festgelegt bitte bis ans Ende wiederholen soll. Vorhersehbar bleiben. Weil auch hier Innovation in Zeiten des Spätkapitalismus eigentlich immer nur das leicht variierte »Früher« bedeutet, keine radikale, den Ablauf erschütternde Innovation, sondern einen optimierten, effizienteren Status quo.
Wahrscheinlich ist es so, dass wir eine echte, eine tatsächliche Innovation doch gar nicht ertragen würden. Eine echte Innovation wäre zum Beispiel die Abschaffung des Kapitalismus, eine echte Innovation wäre ein Eingriff in unser Denk- und Produktionssystem, eine echte Innovation, so Mark Fisher, wäre »the capacity for nihilation, for producing new potentials through the negation of what already exists«. Aber welcher künstlerische Betrieb (alleine dieses Wort) getraut sich das heute tatsächlich, die Unterbrechung, die Störung, künstlerisch bis quasi an den Rand allen Verständnisses zu gehen. Und so ist es tatsächlich für uns Spätmoderne heute eben auch leichter geworden, uns das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, wie es in Capitalist Realism heißt – womit Mark Fisher eine Chiffre für Kunst im Spätkapitalismus entwickelt hat. Und diese horizontlose Gleichförmigkeit gebiert weiter freudig Monster ohne Ende. Mit einem dieser Monster, der Depression, hatte Mark Fisher sein Leben lang zu kämpfen, bis er sich im Januar 2017 entschloss, sein Leben frühzeitig zu beenden.
Der Text erschien erstmals im Theater heute-Jahrbuch 2019. Welche Künstler*innen sie bewunderten, beneideten oder verehrten, wurden 16 Theaterkünstler*innen für diese Sondernummer befragt.