Jetlag ist um vier Uhr früh.
Jetlag ist, um vier Uhr früh das Smartphone checken und gleich wieder weglegen.
Jetlag ist, um vier Uhr früh auch nicht wirklich lesen können, weil man eigentlich schlafen möchte.
Jetlag ist, um vier Uhr früh dann nochmal im Dunkeln liegen für eine halbe Stunde und dann doch nach dem Smartphone greifen.
Jetlag ist, sieben Stunden hinterher dann den gesamten Vormittag, der hier noch nicht aufgegangen ist, auf einen Schlag am Display zu sehen.
Jetlag sind unbeantwortete Anrufe um vier Uhr früh, kurze Nachrichten, schnell was zu dem oder dem zu sagen, Hinweise, dass der Flug gebucht werden soll und man deshalb kurz die Passkopie bitte, eine freundliche Mahnung und dazu die regelmäßigen alarmierenden Aufrufe, jetzt die Welt zu retten, mit einem Klick, hier bitte, jetzt, Thomas, und danach kurz teilen und supporten.
Jetlag ist der Wunsch, wieder einzuschlafen, während man sich schon durch die kommenden Skandale des sich hier allerdings gerade erst noch ankündigenden Tages scrollt.
Jetlag ist das Gegenteil von Schlaf und die andere Seite von wach.
Jetlag ist hatred of poetry, hatred of written language, hatred of Mehrwert.
Jetlag ist, um vier Uhr früh dann doch damit anzufangen, Emails zu beantworten, auf die man um 10 Uhr eigentlich auch schon wenig Lust hat.
Jetlag ist, auf Emails zu antworten, die einen irgendwie außerhalb der Zeitzone gar nichts mehr angehen.
Jetlag ist, auf das eigene Leben zu reagieren, das in einer anderen Zeitzone stattfindet.
Jetlag ist Das Totenschiff von B. Traven, das neben dem Bett liegt. Das mir Andreas gestern noch in die Hand gedrückt hat, und erzählt hat, von eben jenem B. Traven, der in Mexiko als Anarchist aus Deutschland ankam, unter Pseudonym hier Weltbestseller schrieb, völlig unter Entzug der Öffentlichkeit lebte, und nebenher als sein eigener Agent in Erscheinung trat.
Jetlag ist die Email, die man dann doch nicht beantwortet, obwohl man sie schon formuliert hat.
Jetlag ist, durch Insta scrollen.
Jetlag sagt, wozu tut man sich das an?
Jetlag ist B. Traven, der unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Anarchist in Deutschland lebte, ursprünglich aus Brandenburg kam und in Mexiko als Bestsellerautor verstarb.
Jetlag ist Bolaño, der in einem Haus am Strand außerhalb von Barcelona über diese verschwundenen Frauen geschrieben hat. Jahrelang. Keine Einladungen, keine Residenzen, nada.
Jetlag ist nada.
Jetlag ist der verkehrte Sonnenauf- und Sonnenuntergang.
Jetlag ist, keine Lust zu haben, über die nächsten rassistischen Entgleisungen von Menschen nachzudenken, die mehr Geld haben als die gesamte deutsche Verlagsbranche im Jahr Umsatz macht.
Jetlag ist, keine Lust zu haben, zu reagieren auf diese Welt, die da gerade über den Ticker kommt.
Jetlag ist Zähneputzen im Dunkeln.
Jetlag ist Kaffeeaufgießen vor der Dämmerung.
Jetlag ist, die Stille genießen zu wollen mit dem Kaffee vor der Tür und eigentlich schlafen wollen.
Jetlag ist, dem Gespenst des eigenen Lebens in einer anderen Zeitzone zu begegnen.
An der Wand der Wohnung hängen sehr alte Karten, offensichtlich aus dem 17. Jahrhundert. Unklar, ob original oder fancy Item dieser fancy-airbnb-Wohnung eines Australiers im Hinterhof eines mit vier Schlössern verriegelten Hauses in Narvarte, einer doch relativ sicheren Gegend, wie man hört, solange man mit Uber fährt und keine Frau ist.
Beim Spazierengehen erzählt Andreas von vier mexikanischen Filmstudierenden, die für ihren Abschlussfilm in einem verlassenen Gebäude irgendwo in einer Gegend etwas ab vom Schuss ein paar Szenen gedreht haben und nicht wussten, dass sie in einem Narco-Versteck stehen. Eine Woche später waren alle vier tot.
Der Wunsch andauernd, über ein anderes Mexiko nachzudenken. Nicht diese ewige Geschichte mit der Gewalt.
Wenn wir nach Las Pozas fahren wollen, dann nicht über Nacht, heißt es.
Die Insel der Puppen, la isla de las muñecas, erzählt Elsa, sei eine Insel im Süden der Stadt. Hunderte verstümmelte Spielzeugpuppen wurden dort in den Bäumen aufgehängt, um den Geist eines Mädchens zu vertreiben, das nahe der Insel ertrunken sein soll. Der Besitzer, der diese Puppen aufgehängt hat, ist 2001 ebenfalls auf der Insel ertrunken.
Das Problem, so Mica, sei nicht nur, diese Straßen zu meiden, weil dort nachts Transporte oder quasi alltägliche nächtliche Narco-Operationen durgeführt würden, das Problem seien auch die regelmäßigen Straßenblockaden. They don’t want you, because you interfered with something, they just want you, because you are there.
Diese seltsamen Orga-Gespräche: Ich könnte schon auch alleine über Nacht fahren, ich möchte nur nicht die Schauspieler und das Filmteam diesem Risiko aussetzen.
Elsa erzählt von einer verlorengegangenen Oper von Monteverdi, von der nur noch Fragmente existieren und überlegt, ob nicht diese Fragmente vielleicht am Ende stärker seien, als die eigentliche Oper. Also vielleicht sind Werke & Texte durch ihr Verschwinden wesentlich interessanter. Antike Texte, von denen nur ein, zwei Sätze erhalten sind. Und diese ein, zwei Sätze, die durch das Fehlen des restlichen Werks eine Tiefe und Ereignishaftigkeit erhalten, die wahrscheinlich am Ende der schlichte Text gar nicht hätte einlösen können.
Nachts um drei wieder aufgewacht. Nach drei Stunden Schlaf. Völlig hellwach. Man will sich sofort wieder in den Schlaf denken, aber es hilft nichts. Der Körper feiert Sonnenaufgang.
Beim Kaffee dann Ameisen gezählt auf dem Weg zu Käseresten und lange überlegt, ob ich sie wegwischen oder Schlimmeres soll.
Wieder lange still gelegen und versucht, nicht zu denken. Vor allem nicht an Schlaf.
Andreas erzählt von einem ganzen Bus, der in der Sierra Gorda verschwunden ist. Organhandel, so die Vermutung.
Diese völlig andere Alltäglichkeit von allem hier.
Ich denke an diese Ärzte, die völlig mechanisch irgendwo diese Organe aus diesen Körpern, die nun einmal gerade zu diesem blöden Zeitpunkt in diesem Bus waren, entfernen und die überschüssigen Körperreste dann entsorgen. Woran denken die, wenn die so eine Familie aufschneiden?
Beim Fernsehinterview das erste Mal gedacht, kann man darüber jetzt sprechen? Ist das okay? Kann ich erzählen, dass wir planen, die Verschwundenen zu suchen, dass wir den Spuren von Heckler & Koch folgen wollen, die zu den Narcos führen, kann ich das einfach so, wie ich das in Europa machen würde, ins mexikanische Fernsehen sagen.
Könnte ich das einfach so in Europa machen? Mittlerweile auch diese Frage.
Eine Frau, die öffentlich die mexikanische Politik in den Dörfern, die Korruption und dergleichen kritisiert hat, verschwand vor drei Jahren am helllichten Tag auf dem Weg von ihrer Wohnung zum Supermarkt. Gone.
Irgendwie in Mailand dann erst wieder zu mir gekommen.
Jetlag ist auch, wieder in Europa ankommen langsam und durch die Umstellung des körperlichen Rhythmus auf die gewohnte Zeit, vielleicht auch wieder zum Denken finden, oder zur Sprache, zur gewohnten zumindest, zur überdrüssigen vielleicht. Aber zum Zurückkommen gehört mehr dazu. Auch Musik. Auch wieder Ruhe. Auch wieder Rumsitzen. Zum Beispiel in einer dieser traurigen Theaterwohnungen. Wenigstens das europaweit das Gleiche.
Jetlag ist auch, abends in dieser Mailänder Ein-Zimmer-Theaterwohnung mit kleiner Wendeltreppe zu einem Bett in einem, wie sagt man, zweiten Halbstock, Halbzimmer, Souterrain?
Jetlag ist auch, in dieser Wohnung sitzen und überlegen, ob nicht Mexiko vielleicht nur ein Traum war, in einem Dauerjetlag. Der Körper, der andauernd in einer verschobenen Zeit vor sich hin existiert, mitten in der Nacht aufwacht, am Nachmittag müde wird, abends umkippt, frühmorgens hochaktiv ist und dazwischen von Orgakram, Rumfahren, Planen erschlagen wird. Diese Wohnung in Mailand, in der dann Mexiko erst so richtig surreal real wird. Als würde Mexiko erst in der Angleichung des eigenen Biorythmus an die europäische Zeit erfahrbar werden. So seltsam nachzeitig.