Don Juan
Picaresque
Wife beater vest
Cold hand
Ice man
Warring cave man
Well if this is what it takes to describe …
I’m not a man
Wheeler, dealer
Mover, shaker
Casanova
Beefaroni
A-ho but lonely
Well if this is what it takes to describe …
I’m not a man
Morrissey: I’m not a man
Es ist einiges in Bewegung geraten in den letzten Jahren. Das (nicht so) ewige Eis zum Beispiel. Oder die sogenannte Parteienlandschaft. Oder insgesamt das politische Klima, da verschiebt sich gerade einiges – recht passend zu den in den letzten Jahren ebenfalls in Bewegung geratenen Gletschern, aus denen jetzt die dort zwischengelagerten Leichen des Ersten Weltkriegs wieder herausfallen. Irgendwo taucht also vielleicht gerade jetzt ein sehr gut erhaltener Körper in Uniform aus einer Gletscherspalte auf und starrt das erste Mal seit womöglich genau hundert Jahren wieder in den Himmel, die Haut ledern, die Augen trüb, die Finger noch am Abzug. Und über ihn stolpert womöglich genau jetzt ein Flüchtling aus dem Maghreb, der versucht, den Brenner übers Gebirge zu passieren. Rückkehr der Toten. Es steht ein Erbe an.
Einiges ist in Bewegung geraten in den letzten Jahren. Landmassen, Wassermassen, Menschenmassen, und, allerdings eher im Verborgenen, vor allem und wahrscheinlich als Summe all jener politischen, gesellschaftlichen und natürlichen Massen, die in den letzten Jahren in Bewegung geraten sind: Erbmassen. Von selbst geraten Massen nicht einfach in Bewegung, da braucht es über Jahrzehnte gewachsene, manchmal über Jahrhunderte geformte Ablagerungen, Überhänge, lockeres Sediment. Dann reicht ein falscher Windstoß, eine kleine Erschütterung, ein falscher Schritt, oder ein anderes banales Ereignis und schon geraten sie in Bewegung, die Massen.
Über die Toten zu sprechen ist meistens schwer, oder übers Erben zu sprechen. Was die Toten hinterlassen, geht nur die Familie was an, zumindest solange es sich um Besitz und materielle Werte handelt. Zwei bis vier Billionen, also 2 000 bis 4 000 Milliarden Euro werden in Deutschland in der nächsten Dekade (!) von einer Generation zur nächsten wandern. Um diese Zahlen kurz einzuordnen: Die Staatsverschuldung Griechenlands beläuft sich momentan auf etwa 312 Milliarden Euro. Und das sind nur die Erbmassen, die in Deutschland wandern. In verschiedenen nationalen Wahlkämpfen war die Erbschaftssteuer ein pikanter Punkt, weil über das Erbe zu sprechen einfach ungehörig ist. Das fällt schließlich unter das Privatvermögen und hat die Öffentlichkeit nichts anzugehen. Das wissen auch die Spindoktoren und die politischen Marketingstrategen, die die Umverteilungskämpfe lieber auf dem Rücken anonymer Flüchtlingsmassen austragen, anstatt die oberen fünf Prozent um ihren Beitrag zu bitten, in deren Schoß im Übrigen in Österreich zum Beispiel knapp 50 % dieses anstehenden Erbes wandern werden. Umgekehrt dürfen sich die unteren 50 % über gerade mal vier Prozent des Kuchens freuen.
Es steht ein Erbe an. Immer steht irgendwo ein Erbe an, haben mir einige Jugendliche erklärt, mit denen ich zusammen mit der Regisseurin Elsa-Sophie Jach im Herbst an einem Chorprojekt über das Erbe, das Erben, die Erben und die Generationenungerechtigkeit gearbeitet habe. Nicht nur das Erbe, das wandern wird, also die ökonomischen Massen, stehen an, haben die mir erklärt. Nein, warum gibt es auch die immer gleichen Generationenkonflikte bei Zukunftsfragen, die ja vor allem die Zukunft dieser Jugendlichen ist. Der Brexit wurde von alten weißen Männern entschieden, Trump von alten weißen Männern ins Weiße Haus gehoben, die alten weißen Männer predigen, leiten Staaten, sie bauen Bomben, sie wollen nicht nachgeben, nicht runtersteigen von ihren historischen Errungenschaften, nein, die brauchen sicher keine Hörgeräte, die wollen lieber nichts verstehen. Diese alten weißen Männer, die werden lieber Diktatoren, als sich wegen akuter Demenz in eine ordentliche Behandlung zu begeben, die haben Angst, die wollen ihre Macht nicht abgeben, die fühlen sich bedroht von allem Möglichen, von der Digitalisierung, von den Ausländern, von den Flüchtlingen, von den Medien, die fühlen sich zurückgewiesen, die fühlen sich überholt, vernachlässigt und sitzen dabei bequem auf ihren Erbmassen, auf ihren Pensionssystemen, die auf einem Schuldenberg gebaut sind, an dem sich zukünftige Generationen schon jetzt abarbeiten. Vielleicht ist es auch nur der bevorstehende Tod, der immer für Verwirrung und Angst sorgt. Man wird gewesen sein und möchte das einfach lieber nicht. Man möchte nicht abtreten, man möchte einfach nicht. »Jetzt fühlt ihr euch selbst diskriminiert / ’s ist nicht schön, wenn man Privilegien verliert«, singt Christiane Rösinger, »Was jetzt kommt, ist für euch nicht so schön / Aber wenn man gehen soll, soll man gehen«, und man möchte diese Zeilen genauso zärtlich, wütend, laut und entschieden Trump und Erdogan ins Gesicht pusten, »Manche Dinge, die versteht ihr nie / Diversity und Gendertheorie / Andere nehmen eure Plätze ein / Sie werden nicht so weiß und männlich sein / … / So wie früher wird es nie mehr sein / Nehmt es wie ein Mann und sagt Goodbye«.
»Es steht ein Erbe an«, hat der Chor irgendwann sich selbst geantwortet, nachdem er lange palavert hat, immer steht irgendwo ein Erbe an. Die Geschichte schläft nun einmal nicht, die lässt immer etwas zurück, nur so funktioniert die überhaupt, die Geschichte, durch das Erbe, von den Toten zu den kommenden Toten wandert die Geschichte, und unterwegs noch mehr Tote und noch mehr Erbe, von dem keiner so richtig weiß, was man damit anfangen soll, hat uns der Chor der schwererziehbaren Erben erklärt. »Warum eigentlich wir, warum wir Trump«, hat der Chor gefragt, »warum wir Brexit, warum wir Rechtsruck, warum wir?«
Und dieses »wir«, das da plötzlich zu sich gefunden hat, hat mich interessiert: Warum entsteht man als Individuum – ich lasse den Chor hier jetzt einmal fälschlicherweise als ein solches durchgehen –, warum also entsteht so ein Individuum in dem Moment, in dem es sich in der Geschichte erkennt? Im Erbe einer Geschichte stehend, die andere angefangen und hinterlassen haben, deren Folgen einfach so auf die nächste Generation weitergeschoben werden, ohne dass die sich Gedanken darüber gemacht hat, welche Welt man eigentlich der nächsten hinterlassen möchte. Dieses »wir«, das plötzlich überlegt hat, was es bedeutet, dass andere eine Welt für einen vorbereiten, ein Leben, Beziehungsmodelle, Einkommensscheren, Rechte und Pflichten, alles Erbe – »alle Fragen des Erbes sind Fragen des Seins und deshalb Fragen der Zukunft«, hat Jacques Derrida in Marx’ Gespenster erklärt. »Erben heißt, sich mit der Zukunft beschäftigen, vererben heißt, die Zukunft formen, und man kann sich vorstellen, wohin eine utopielose Politik, die sich nur noch mit Umfragewerten beschäftigt, führen wird«, hat der Chor irgendwann festgestellt.
Und der Chor dieser Jugendlichen hat dann gedacht: Interessant, in der Auseinandersetzung mit meinem Erbe, komme ich zu mir selbst – oder kriege ich zumindest eine Ahnung von dem, was er einmal gewesen sein wird, als Chor, und was er einmal gewesen sein könnte. Durch die historische Arbeit entsteht Bewusstsein. Plötzlich also, in der Auseinandersetzung mit all dem Erbe, das da ansteht und umverteilt wird, ob man will oder nicht, oder das eben auch nicht umverteilt wird, ob man will oder nicht, ist dieser Chor zu sich selbst gekommen und hat sich selbst sozusagen erfasst und erblickt als etwas Verlorenes, als etwas, das heimgesucht wird von »gender, race and class«, von ansozialisierten Gesten, Erwartungen und Möglichkeiten, als Geist, aus dem andere Geister sprechen, sonst nichts, durch den hindurch eine Geschichte zwangsvererbt wird, mit der man sich nun einmal auseinandersetzen muss, weil man gar nicht anders kann, weil man sich die eigene Geschichte und den eigenen Körper, den eigenen Kopf und das eigene Erbe, das einem einmal zustehen wird, leider nicht aussuchen kann. Und das Testament, das diesem Chor vorliegt, ist alles andere als ermunternd, denkt der sich doch: »Klimawandel, Erhitzung, Verarmung, neue Scheren, you name it. Aber warum ich?«
Und vielleicht heißt auch genau das »tragisches Bewusstsein«. Hat sich der Chor gedacht. Also dieser etwas angestaubte Begriff, vielleicht ist es genau das, demgegenüber man heute, als hyperaufgeklärte Gesellschaft eine Abneigung hat, sich einzugestehen, dass man von anderen abhängt, und der Zukunft ins Auge zu sehen, von der wir mittlerweile sehr genau wissen, wie sie enden wird, aber trotzdem so zu tun, als wüssten wir nichts davon. Weil wir Postmodernen, denkt sich der Chor, es uns in unserer ahistorischen Zeitlosigkeit recht kuschelig eingerichtet haben. Weil’s doch einige Jahre richtig gut lief, aber auf Kosten anderer, die sich jetzt ihren Anteil zurückholen wollen: Wir wissen ganz genau, was wir tun, aber wir tun es trotzdem, und dann bemüht man sich, bei Erfolgen der AfD von Abgehängten zu sprechen und bei neuen Superhurrikans von historischen Ausnahmen. Fakt ist, beide Ereignisse werden bleiben, die hinterlassen wir jetzt schon. Aber das klingt jetzt wieder wie so ein Kassandraruf, denkt sich der Chor, und den wollte man ja noch nie hören, und schon gar nicht in der Postmoderne, denkt er sich. Wer will denn mitten auf der Party den Saft abdrehen, nur weil draußen mittlerweile alles brennt?