das bioplastik sieht eigentlich aus wie eine zweite haut. es schimmert rot, wenn du es mit licht anleuchtest, es wird dunkelrot, wenn du es auf einen tisch legst, wo du es zuschneiden kannst, vernähen, für die performing arts oder an wände tuckern. die farbe war in wirklichkeit aber zufall, erklärt r., sie hätte mit verschiedenen farben experimentiert, dass es jetzt skin and flesh als assoziation hervorruft, sei natürlich interessant. m. isst ein stück davon, in dem selbstorganisierten art space in diyarbakır in der südosttürkei, nahe der syrischen grenze, in dem r., die künstlerin, damit eine installation vorbereitet und ist erstaunt, yes you can it eat.
zwei tage später flogen dann schon die türkischen kampfjets an der syrischen grenze und wir tauschen uns parallel dazu über bioplastik aus, per email.
sie fertigt es in der küche ihrer mutter an, aus rein ökonomischen gründen würde es ihr schwer fallen, größere mengen zu erzeugen. dazu gesagt werden sollte, dass es aufgrund der inflation für junge menschen enorm schwierig geworden ist, auszuziehen – für junge frauen multiplizieren sich die probleme dann nochmal. the plastic skin hat eine lederne, widerständige materialität, gar nicht wie kunststoff eigentlich.
ich verknüpfe sie per email mit der künstlerin und bühnenbildnerin, die für mein letztes stück ein bühnenbild aus reishi-pilzen entwickelt hat, das in den werkstätten des theaters gewachsen ist, ich stelle eine verbindung her, entwickle ein konzept für ein stück mit bioplastikkostümen aus den südosttürkischen, kurdischen gebieten, mit einem bühnenbild aus selbstangebauten reishipilzen und für einen moment erscheint die festgefahrene situation auf dem planeten wieder lösbar, werden andere materialien, neue verknüpfungen, andere optionen, sogar andere sprachen sichtbar.
die bombe explodiert in der istiklal, der größten einkaufsstraße istanbuls, direkt an der ecke zu genau der straße, in der ich im august zwei wochen gelebt habe. in dem restaurant an genau der ecke habe ich gegessen, vor dem eisladen ein video gedreht. sechs menschen sterben, über einundachtzig menschen werden teils schwer verletzt. das internet fällt aus, die sozialen medien sind zunächst nicht erreichbar.
ich denke an a., er hasst die istiklal, meint, sie hätte sich seit seiner kindheit krass verändert, andauernd weichen wir auf nebenstraßen aus, umgehen die größte einkaufsstraße in instanbul. früher gabs hier noch bäume, mülleimer und bänke – mittlerweile gibts nur noch fassaden von h&m, mango und ein supermarkt klebt am anderen. die argumentation drehte sich vor allem um öffentliche sicherheit, wegen bomben in mülleimern, unter bänken, hinter bäumen.
ich schicke d. eine nachricht, sie wohnt auch in diyarbakir, ich sage, alles ok, i hope they don’t use it to escalate – sie antwortet, they already escalate.
2015 wurde ein großteil von diyarbakir zerbombt vom türkischen militär, die eltern von d. waren während dieser zeit in der stadt, sie studierte auswärts, und erzählt von der leiche einer frau, die mehrere tage auf der straße liegenblieb damals, weil keiner sie abholte, because of the snipers, woraufhin m. sagt, aja und dass sie sich mit snipern auskenne, und mit bomben, die fallen, und dem geräusch nach einer explosion, und als d. nachfragt, woher ihre expertise stammt, erzählt m. vom zerfall jugoslawiens und ihrer flucht unter dem rock ihrer großmutter und d. schreibt später, dass wir wiederkommen sollen und bedankt sich für den ausflug zu der 12.000 jahre alten stadt in den kurdischen regionen, die wegen eines stausees, aus dem wasser des tigris geflutet wurde, wegen eines staudammprojekts, der ein einziges kontrolltool für die südosttürkischen regionen und den nordirak ist, die kurdischen gebiete also. jetzt ist dort nur noch eine straße, die mitten in einem see endet, einfach so, man fährt und dann ist da wasser, wo früher ein riesiger turm und ein ganzes tal, ein habitat für zahllose spezies, war. und die straße verschwindet langsam darunter, unter dem wasser, bis man sie nicht mehr sieht. stille.
die attentäterin, heißt es zunächst aus regierungskreisen, in einem land, in dem knapp 24h alle sozialen medien ausgeschaltet werden, sei aus den sogenannten kurdischen gebieten in syrien gewesen.
a. sagt, es war ein kleiner anschlag, gemessen mit 2015/2016, als a. und z., mit denen ich studieren durfte back in wien, am 10. oktober 2015 einen schlüssel nicht fanden und deshalb einige minuten später auf einer friedensdemonstration eintrafen, veranstaltet von einem bündnis linker parteien und gewerkschaften. sie kamen damit auch nur wenige minuten zu spät zum schwersten bombenanschlag in der türkei, mit mehr als hundert toten und über 800 verletzten, mehrheitlich teilnehmende dieser friedensdemonstration. ich werde die bilder, die sie mir damals beschrieben, als sie dort erste hilfe leisteten, oder körper sortieren halfen, nie vergessen.
später wird es plötzlich heißen, die attentäterin sei eigentlich aus somalia gekommen und ihre aussagen werden anfangen sich zu widersprechen.
als ich früh am morgen einmal auf dem weg zu einem workshop mit autor:innen im taxi sitze, sehe ich noch einmal ein uboot den bosporus runterfahren. es war das dritte oder vierte, das ich hier gesehen habe. zwei davon hatten türkische flaggen, zwei andere waren nicht erkennbar. einmal fuhr eines vorbei, als ich gerade im bosporus schwimmen war, in diesem kanal, dieser ader, dieser sehne, diesem binnenmeer, mit einigen kids aus der gegend und älteren leuten und einer kamerafrau aus deutschland, die mit t. einen film, aether, über die stadt gedreht hatte, die geflutet wurde, die heimatstadt von t.
ein anderes mal stand ich an der schwarzmeerküste, dreißig minuten von hier mit dem öffentlichen bus, und habe hinübergesehen, über alle diese getreideschiffe hinweg, bis nach cherson, an einem sonnigen tag erkennt man die narben, die sich auf der anderen seite des schwarzen meers als landmasse aus dem wasser erheben – zumindest bilde ich mir das ein.
t. wird uns später zum essen zu sich nach hause nach cihangir einladen, von ihrem fenster aus überblickt man den bosporus, die prinzeninseln und an sonnigen tagen das gesamte marmarameer.
eine sehr junge autorin eines anderen workshops, den ich betreue, eine kurdin, sagt, sie könne nur auf kurdisch schreiben, aber jeder satz, den sie auf kurdisch schreibt, fühle sich an, wie eine enorme überwältigung, aber auch wie eine enorme befreiung.
ich beginne einen text rund um diese haut, schreibe etwas über häutung, über schmerzpunkte, über lokalisierbare regionen auf meiner haut, über regionen, die sich dem blick entziehen und mich dennoch heimsuchen, über regionen, die ich nicht kontrollieren kann, die ich abstoßend finde, die mir fremder und fremder mit der zeit geworden sind, über meine haut, darüber, dass ich meinen körper an schlechten tagen als fremdkörper wahrnehme, als abstoßend, klobig, unförmig, bis ich irgendwann verstanden habe, dass es meine ganze klassenscham ist, die sich darin widerspiegelt, dass ich immer noch diesen bauern, bäurinnen- und arbeiter:innenkörper meiner familie mit mir herumtrage, und der es ist, an dem ich mich stoße, wie an einer zweiten, falschen haut, die aber eigentlich meine erste ist, die für menschen in meiner familie schon mehrfach tödlich war, hautkrebs, depressionen & suizide bis hin zu verstümmelungen, fehlenden fingern, armen, und verbrennungen, wandern über meine haut. ich schreibe, dass ich an sehr schlechten tagen imaginiere, wie sich diese haut über den planeten legt und ich den schmerzpunkten hinterhergehe. ich schreibe, dass es meine schwächsten tage sind, an denen ich das schreibe.
r. wiederum, ein jüdischer wissenschaftler aus israel, in london & berlin lebend, schimpft an einem nachmittag, als wir uns zufällig begegnen, heftig über die fehlentscheidung, das bild auf der documenta abgehängt zu haben, er möchte meine meinung dazu wissen, aber bevor ich antworten kann, erzählt er von anderen, ähnlichen geschichten und holt zu einem großen rundumschlag an den antideutschen aus, die ihm, als juden, schon mehrfach antisemitismus vorgeworfen hätten und erklären wollten, was und wie er, als über 70-jähriger jude, über israel zu denken habe.
an einem anderen tag wache ich um 04:08 auf, weil das bett wackelt, es fühlt sich an, als wäre ich betrunken, weil ich zuerst innen und außen nicht zusammen bekomme, es ist als würde meine sicht wackeln, mein blick, erst nach und nach begreife ich, dass es ein erdbeben ist, dass es schwingungen sind, die ich gerade wahrnehme und ich schreibe c. die gerade in indonesien einen aktiven vulkan erforscht und bewandert, dass ich an sie dachte, connected through rifts, der tektonik entlang, from skin to skin, glaube ich für einen moment, high from the shaking, ihren vulkan, gerade jetzt durch die tektonischen verschiebungen fast berühren zu können. ich fühle mich für eine sekunde unterirdisch verbunden, tatsächlich spürbar näher dran an diesem vulkan als am bosporus.
wir lachen relativ viel auf diesem workshop, den ich writing on a damaged planet genannt habe, und ich stolpere sehr vorsichtig, wie ich es in deutschen literarischen diskursen gewohnt bin, wirklich sehr vorsichtig in richtung science-fiction und bereite mich schon mal darauf vor, dass mich alle ansehen, als würde ich gleich mit x-men antanzen, während ich den menschen vorsichtig von den politischen chiffren von ursula k. le guin und donna haraway erzählen möchte, bereite schon mal das xenofeministische manifest vor und stelle wieder einmal und erleichtert fest, dass es eine sehr deutsche angelegenheit ist, science-fiction zu belächeln. ursula k. le guin ist hier weltberühmt, alle kennen sie, das meinte auch schon ein übersetzer, den ich kennengelernt habe auf einem meeting hier einige monate zuvor, genauso wie china mieville. alles weithin bekannt hier, ich atme erleichtert durch und denke mir, vielleicht hat diese deutsche idee von kultur auch schlicht mit der deutschen architektur zu tun, oder dem bourgeouis-historisierenden grundverständnis von kultur in deutschland, und nehme mir vor, nochmal über diesen berliner architekturbeauftragten nach dem mauerfall nachzulesen, der nämlich zuvor für die planung der lübecker innenstadt als eine beschauliche puppenstube aus einem ibsenschen horrorfilm verantwortlich war und dann eben nach dem mauerfall berlin „wieder“ „aufgebaut“ hat – restauriert, wäre das eigentliche wort.
abends im jazz club wird mir michael müller über den weg laufen, der ex-bürgermeister von berlin, der einige tage zuvor zu gast in der akademie war, wir grüßen uns kurz und ich empfehle ihm das jazz konzert ein stockwerk drüber.
ich frage die kolleg:innen im workshop wie wir all diese kreuz- & quer geschalteten erfahrungen, parallelisierten erfahrungen, geschichten, mythen, historien und multiplen krisen, die wir so eigentlich schon nicht mehr nennen möchten, eigentlich verarbeitet bekommen, also wie bekommst du, frage ich, in einer hyperakzelerierten spätmoderne, die gegenwart als ausformung historischer ereignisse, deren relevanz du ernst nehmen möchtest, innerhalb einer sprache, die qua grammatikalischer logik keine parallelisierungen erlaubt und exkludierend qua struktur sein muss, um sinn zu erzeugen, überhaupt noch in den blick, wenn nur noch überlagerungen und überlagerungen und gleichzeitigkeiten regieren. wie kommen wir an diese schmerzpunkte ran, die uns nah sind, und von denen wir doch gleichzeitig gelernt haben, sie zu verleugnen, um in dieser akzeleration zu bestehen, um resilienz, wie man überall sagt, zu gewinnen, und ich scheiß auf resilienz. resilienz erinnert mich an hornhaut, an verkrustungen, das sind die stellen meiner haut, an denen ich nichts mehr spüre, die ich abschabe.
diese zweite haut, dieses bioplastik, sei eigentlich gar kein bioplastik, erklärt mir b. später, eine künstlerin, die schon in so einem stück haut auf der documenta 2010 performt hatte. google it, thomas, meet me, eat me. it’s basically a famous lebensmittel from the southeastern turkish regions und lacht über meine euphorische beschreibung vom bioplastik.
das, was mich interessiert, sind durchlässigkeiten, transparenzen, verknüpfungen, verästelungen und wahrheiten, auch, wenn sie weh tun. schmerz macht nicht dumpf, verdrängung macht das. wenn ich schmerzen habe, fange ich an witze zu erzählen, wenn ich verdränge, werde ich stumm.
irgendwann erfährt man, in einem einzigen back & forth aus politiker:innenkreisen, dass die attentäterin kontakt zu einem nationalistischen politiker hatte, die beiden hätten sogar telefoniert.
am letzten abend in istanbul besucht mich y., eine russin aus moskau, die mich bittet für ihren freund geld mit nach berlin zu nehmen, sie beide seien aus russland geflohen, aufgrund eines verfahrensfehlers wäre ihr visum allerdings abgelehnt worden und sie müsste jetzt in istanbul bis zur wiederholung des verfahrens oder eines visums für einen anderen eu-staat warten. wir sitzen im atelier und unterhalten uns über den zustand der welt, über pussy riot aktivistinnen, die sich lieferando uniformen leihen, um in diesen second skins, dem hausarrest zu entfliehen und als sie die tür der deutschen botschaft hinter sich verlässt, die ich am nächsten tag auf dem weg zum flugzeug nach berlin verlassen werde, da schließt sich diese scheißtür hinter ihr, einfach so, wie türen sich schließen, weil das ihre funktion ist, um räume zu trennen, und es nieselt und ich spüre gar nichts, entlang der tektonik, von narbe zu narbe, und wir umarmen uns und wir werden in kontakt bleiben und s., ihr freund, der das visum bekommen hat, mit dem ich mich gut verstehen werde, wie sie sagt, wird sich das geld von mir holen und ich werde ihn zum essen einladen und mit freunden bekannt machen und wir werden uns bequatschen und entlang der vernarbungen und verschärfungen, entlang der verwerfungen werden wir uns verstehen, so oder so.