Für Megapixel Liechtenstein haben drei LiechtensteinerInnen mit der Mini-Kamera ›Narrative Clip‹ 24 Stunden ihres Alltag dokumentiert. Dabei sind 4.351 automatische Schnappschüsse entstanden, die einen ungewohnten Einblick in das Leben dreier Menschen geben. Das dokumentarische Material diente als Grundlage für drei fiktive Erzählungen – geschrieben von Heike Geißler, Thomas Köck und Michael Stauffer. Wie es war, diesen Text zu schreiben, darüber hat Thomas Köck einen Text geschrieben.
Zuerst war da nur der Stuck.
Alle dreißig Sekunden.
Ganz leicht verschoben.
So als hätte sich jemand im Schlaf bewegt.
Alle dreißig Sekunden.
Enter ghost.
Nach dem ersten Durchsehen der tausendvierhundert und noch ein paar verwackelten Bilder endet der Tag aus dem Leben dieser Frau mit einer zweistündigen Betrachtung des Stucks an der Decke ihres Wohnzimmers. Draußen muss langsam die Nacht einsetzen, es wird dämmrig und dieser Stuck breitet sich in knapp zweihundert Bildern aus. Bekommt ein Eigenleben. Wird zum Beobachter der Vorgänge unter ihm. Ich dachte, vielleicht schreibst du nur aus der Perspektive des Stucks, der sich Gedanken macht über das Leben, das tagein, tagaus unter ihm stattfindet. Und habe das ganz schnell wieder verworfen.
Ich wollte nach dem ersten Durchsehen der Bilder eigentlich gar nichts mehr schreiben. Ich dachte, diese Bilder sprechen doch für sich, sie sind so wunderbar fragmentarisch, da springt einen aus jedem Bild heraus eine Welt an, die so voll ist von Möglichkeiten, Perspektiven und Geschichten. In der zur Werkstatt umfunktionierten Garage zum Beispiel Puppenköpfe, Puppentorsi, Puppenarme, Puppennacken, Puppenkleister, da ein verwackeltes Bild von einem europäischen Wohnzimmer im Jahr zweitausendundsoweiter, ein spätmoderner Himmel blinzelt hinein in ein Auto mit Servolenkung und ABS, das Radio läuft – hier werden wir alle einmal gelebt haben und keiner wird’s so richtig begreifen, was das alles einmal bedeutet haben wird. Überall künftige Ruinen. Wunderbar! Jedes einzelne Bild in seiner seltsam fremden Perspektive von links unterhalb des Schlüsselbeins, wie ein Blick auf eine fast vergessene Welt. Eine Welt, die mir zugleich bekannt und unbekannt ist, mit der ich eigentlich nichts zu tun habe. Und ich meine jetzt gar nicht explizit Liechtenstein – auch das so eine Welt, mit der ich bislang nichts zu tun hatte. Ich wollte jedenfalls gar nichts dazugeben, zu diesem zukünftigen Bildsediment. Das sollte man sich einfach so ansehen und durchklicken und selbst Bezüge herstellen, dachte ich. Warum diese Fremdheit mit einer Fiktion beerdigen?
Dann dachte ich, wenn schon, denn schon, das muss mindestens wie in diesem Videoessay von Godard daherkommen – mindestens! Und die Musik von Max Richter, gespielt von einem Kammerorchester. Und ich lese mit einer rauchigen, sonoren Stimme Erinnerungen, Dialogfetzen, Tragödienfragmente, O-Töne, Filmzitate, E-Mails, Witze.
Nach einem kurzen, ernüchternden Anruf bei Universal Music, zwecks der Musikrechte, einem längeren, den Blick aufs Ökonomische hin wieder zurechtrückenden Telefonat mit einem befreundeten Videokünstler und einem noch ernüchternderen Blick auf den Kalender war klar, das wird ein schöner Traum gewesen sein.
Ich sagte mir, es muss jetzt doch ganz klassisch einfach so ein Text her, dafür wurdest du ja auch angefragt. Also mach, was Autoren machen, und schreib einen.
Zwei Tage später ist da also ein Cyborg, der Ende des vermutlich vierundzwanzigsten Jahrhunderts menschliche Puppen herstellt, basierend auf Erinnerungen, auf allerhand spätmodernen Datenträgern gespeicherten Voicemails, E-Mails usw. Die Puppen werden aus allen Ecken der Welt zu skurrilen, bisweilen gewalttätigen Ereignissen angefragt und sollen seltsame Anforderungen erfüllen. Der weibliche Cyborg, selbst ein Duplikat einer Liechtensteiner Puppenbauerin aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, bekommt allerdings in letzter Zeit immer mehr Puppen zurückgeschickt. Puppen, die von Gabeln, Harpunen und Stricknadeln durchstoßen wurden, deren Augen mit echten Menschenaugen ausgetauscht wurden, Puppen, die in Säure und Menschenblut gebadet wurden, von Panzern überrollt, geköpfte Puppen, vergewaltigte Puppen, die auf Knopfdruck nur noch schreien, wimmern, klagen, ohne aufzuhören, oder mit der Stimme von Siri von Gewaltorgien und fernen Planeten berichten, von langsam verlöschenden Erinnerungen. Der Cyborg versucht im eigentlichen Hauptplot festzustellen, was Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Leben der Puppenbauerin geschehen war, der er nachempfunden wurde. Philipp K. Dick rotierte bereits spürbar im Grab und ich hatte Material für einen mindestens mittelmäßigen Science-Fiction-Roman.
Das Problem war: Diese Geschichte kam wunderbar ohne ein einziges dieser Fotos aus. Die Bilder im Text hatten sich verselbstständigt und ich hatte mich als Autor unwillkürlich vor der verstörenden Präsenz dieser intimen Einblicke geschützt.
Im Theater ist es so: Wenn ein Schauspieler eine Emotion zeigen möchte, passt eine gute Regie darauf auf, dass der Schauspieler die Emotion nicht spielt, nicht kleistert, nicht malt, sondern im Entziehen erfahrbar macht. Die Regie würde sagen: »Du behauptest etwas, du kleisterst etwas drüber, du spielst mir etwas vor.« Als Autor sagte ich mir jetzt: »Du behauptest etwas, um dich zu schützen, du fliehst in die Fiktion.«
Die Fotos wirkten in den Text hineingestellt wie fremde Objekte, die durch diese Fiktion missbraucht wurden. Was auf den Bildern nämlich zu sehen war, war ein voyeuristischer Blick auf das Leben eines tatsächlich existierenden Menschen, und dieser Blick war so irritierend, so fremd, auf so vielen Ebenen verstörend bis unangenehm, dass ich eigentlich überhaupt keine Lust hatte, ihn hinter irgendeiner Fiktion verschwinden zu lassen. Ich wollte das Publikum diese Fremdheit spüren lassen, diese Unmöglichkeit, dem gerecht zu werden, diese Distanz zwischen mir, Textverantwortlichem, und diesen Fotos.
Ich ging wieder zurück auf Anfang, drehte Max Richters Sleep auf, startete beim Stuck und notierte, was hinter dem sichtbar wurde, was der Stuck von uns Spätmodernen erzählt: der Riss an der Decke.
Und im Riss zwischen all den Fotos und dem Text, der vom Stuck ausgehend fragt, was das eigentlich alles hier soll, in Liechtenstein sowieso, aber schon auch in der ganzen Welt, der sich dann irgendwann verselbstständigt hatte, hätte dann im besten Fall das Publikum Platz.
Und noch viel mehr Bilder, von denen ich überhaupt keine Ahnung habe.
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