Svenja Leiber im Werkstattselbstgespräch. Berichte aus dem Entstehungsprozess des Romans Das letzte Land: Gedanken über Munch, Vergil, die rhetorische Kunst der Bauernregel. Teil 2
Ja, und das Haus des Tods und des Tartarus innerste Tiefen
Schwiegen, die Furien standen erstarrt, die schlangenumschnürten;
Staunend schwieg des höllischen Hundes dreifältiger Rachen,
Schwieg der Sturm; still ruhten Ixions grässliche Speichen. –
(Vergil, Georgica, Buch 4)
Irgendein Frühsommertag, an dem mich meine Mutter anrief. Sie teilte mir mit, dass meine Großmutter es endlich geschafft habe. »Endlich«, sagte meine Mutter leise und zärtlich. Sie hatte einem langen Kampf beigewohnt.
Häufig hatte man meine Großmutter schon für so gut wie tot befunden. Immer war sie wieder aufgestanden, mit ihrem liebsten Satz auf den Lippen: »Ich will noch ein bisschen leben!« Zuletzt hatte sie aber vor Tagen mit dem Essen aufgehört und kein weiteres Lebenszeichen von sich gegeben, so dass sich die Familie zur Letzten Ölung genötigt sah, welche die Großmutter in wacheren Zeiten so angeordnet hatte. Auch bei dieser Handlung rührte meine Großmutter sich angeblich nicht. Kaum war der Pfarrer aus dem Raum, öffnete sie aber, so erzählte meine Mutter, die Augen einen Spalt und meinte: »Was war denn das nun für ein Kasperletheater?« Mehr sagte sie in diesem Leben nicht mehr. Sie starb, nachdem sie sich eine weitere Woche lang ausgeatmet hatte.
»Jetzt brauchen wir euch«, sagte meine Mutter leise.
»Ich fahre in einer Stunde los«, sagte ich.
Ich rief meinen Bruder im Büro an, und eine Stunde später fuhren wir auf der Autobahn in Richtung Hamburg.
Der abgemagerte Leichnam lag unter einer Spitzendecke in einem viel zu üppig gedrechselten Eichensarg. Der Aufbahrungsraum war gut gekühlt, und nachdem die Familie Blumen aufgestellt hatte, blieben mein Bruder und ich in der sich ausbreitenden Dämmerung auf einer kalten Holzbank für die Totenwache zurück.
Ein, zwei Stunden lasen wir Evangelien, dann Rilke, Dante – irgendwann verstummten wir. Eine unbeschreibliche Scheu. Ich sah seitlich auf meinen Bruder, neben dem der riesige Sargdeckel an der Wand lehnte. Ich hatte plötzlich das sichere Gefühl, hier nicht mit ihm allein zu sein. Ich hätte gern gelacht. Alle angelesenen Gestalten aus dem Hades schienen um die Spitzendekoration zu wimmeln. Ich meinte schon die Bewegung zu sehen.
Als hätte er meine Angst gespürt, fing mein Bruder plötzlich laut an zu singen.
Wir sangen mehrere Stunden, alles was uns einfiel. Auf unserem Holzbänkchen, in unseren Jeans und Turnschuhen, zwischen Rosenduft und dem süßen Geruch der Verwesung (man hatte der Verstorbenen aus Taktgefühl kein Silikon in den Rachen gegossen, wie es inzwischen üblich ist), sangen wir gegen die Zersetzung an.
Als wir auf der Autobahn zurück nach Berlin fuhren, wusste ich, ich würde einen Orpheustext schreiben, einen Roman, in dem das zersetzende Chaos des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts dieser geliebten Großmutter, in ein Verhältnis zur Musik gestellt wird. Es muss, so war ich mir plötzlich sicher, einen Zusammenhang geben zwischen dem Jahrhundert des Sterbens und der Musik. Es ist ein umgekehrter Orpheustext, den das letzte Jahrhundert geschrieben hat.
In seinem vierten Buch, einem Lehrgesang über den Landbau und die Bienenzucht, berichtet Vergil von Orpheus, dem Erfinder der Musik, der alles Wilde mit seinem Gesang zu zähmen fähig war.
Das Jahrhundert der Großmutter hat, als die Großmutter eine junge Frau war, die zähmende Funktion der Musik aufgegeben und sich einen neuen heidnischen Kult entwickelt, der die Massen entfesselte – wir sind aus dieser Masse hervorgegangen. Ich lehne es ab zu behaupten, wir Deutschen seien wieder wer. No more solo. Never.