… und denke immer häufiger: Ausschnitte bedeutender Bilder oder Texte auf Lesezeichen und Kuchenteller zu drucken ist nur ein Vorgang, der etwas Wertvolles, das einmal an alle gerichtet war, zerstückelt, um irgendwem die Kassen zu füllen. Eigentlich also das andauernde Spinnen von Gold zu Stroh. Und dieser allgegenwärtige Schrei auf Bechern, Adressbüchern und Taschentüchern – vielleicht nur der deutlichste Ausdruck dafür. Munchs Schrei, der lautlos durch die Souvenir- und Buchshops unserer Welt hallt, ist uns in seiner Verzweiflung aber viel näher, als seine Entstehung (bis 1910) vermuten lässt … und denke: In diesem Schrei wird doch nichts als der bis an die Ränder seines Lebens ausverkaufte Mensch inmitten einer sich selbst zustapelnden Warenwelt sichtbar, und man möchte schon weinend vor ihm hinsinken, vor Bechern und Adressbüchern wie Nietzsche vor dem Turiner Mietpferd, und tut es nicht, weil der Wahnsinn heute einfach nicht mehr das ist, was er vor hundert Jahren noch war.
… und natürlich: Auch der sogenannte Kunstbetrieb bestätigt heute (wie vielleicht schon immer) nur noch die Klasse, die sich Kunst auch leisten kann, nicht den Menschen. Aber ich erinnere mich, wie mir ausgerechnet Munch vom ersten Moment an eine Rettung war. Ich habe die Verformungen und Paniken meiner Kindheit erst in seinen Bildern wiedergesehen und festgestellt, dass es sich gar nicht um einen eigentlich kindlichen Zustand handelte. Bei etwas instabiler Konstitution und entsprechenden Erlebnissen konnten einen diese Dinge auch später anfallen, weil sie einfach auf etwas wie Erleben beruhen. Dieses Ausfransen oder Zusammenfließen von Gesichtern, dieses Ausbeulen der Körper und Landschaften, diese krasseste aller Nietzsche-Sonnen, wie Munch sie malen konnte, waren für mich nie Beispiele von Wahnvorstellungen, sondern immer nur Ausdruck wirklicher Offenheit. Ich hatte nie den Eindruck, hier werde halluziniert, sondern, im Gegenteil, gesehen, über die rein physischen Gegebenheiten hinaus. Ein Mensch ist doch eben auch ausgebeult, wenn man seine Haut oder seine Jacke nicht immer schon gleich als seine Grenze begreift. Munchs Malerei war also eine Richtungsanweisung, auch mit Sprache so zu verfahren: die in ihrer Verbeultheit bestürzenden Realitäten der Geschichte und der Gegenwart in ebenso verbeulte Bilder zu übertragen und damit auch ein Stück weit zu bannen! Eine Art lebendiges Umspannwerk, Bannwerk von Eindrücken auszubilden, das für sich eine erste Lösung gefunden hat: die Sprache als Notwehr.
Munch selbst war ein Künstler, der sein Leben ins Bild »schrieb«, um sich zu wehren. Ich denke, er muss ein Mensch gewesen sein, in dem das Leben in Form von Vergangenheit und Zukunft dauerhaft anwesend war, meistens bedrückend, gleichzeitig visionär. So ist Das kranke Kind (1885/86) wohl auch beides, Erinnerung an einen Verlust und Vorausschau in ein Sterbejahrhundert. Im Portrait mit Knochenarm (1895), und ebenso lautete auch ein früherer Titel für den Roman Das letzte Land, zeigt sich Munch selbst als einen bereits Toten, als seine eigene Zukunft also. Der Tod bedeutet in seinen Bildern nicht nur Bedrohung, sondern auch Ziel. Er stiftet, wie die Erinnerung, Identität.
Das Leben ins Bild schreiben, wie Munch es konnte, oder das Leben in den Text malen heißt also vielleicht doch: versuchen, sich wie der Kentaur in die Zukunft zu bewegen und das Ziel in der Vergangenheit zu fixieren. Eine Technik, die im erinnerungslosen Voranschreiten zunehmend verloren gehen dürfte und vielleicht nur in Benjamins Engel der Geschichte (1940) ihren gültigen Platz in der Kunst bekam. Gemeint ist damit aber nicht ein verträumtes Erinnern an eine scheinbar bessere oder schlechtere Epoche, und sei es nur die eigene Kindheit, sondern: im stündlichen Fortschritt und Ausverkauf der Gegenwart etwas mehr Pausen und Farben auf der Palette der Zeit wagen, etwas mehr Erinnern, etwas mehr Zukunft. Etwas mehr Munch/Mönch, ein Spinner, der aus Stroh Gold machen konnte.