… und merken, du erträgst vor allem nicht, wenn etwas im Verborgenen geschieht. Es sei denn, du selbst willst es geheim halten. Alles andere soll offenliegen. Allem willst du den Schleier runterreißen. Am liebsten soll ein Gesetz dafür her. Du magst es nicht, wenn es eigensinnig oder verworren zugeht. Das verhängte Imago macht dich aggressiv. Den Wald, den du nicht durchdringst, holzt du ab. Das Haus, das deinen Blick verstellt, brennst du nieder. Den Glauben, den du nicht fühlst, dämonisierst du. Den Körper, der dir entgegentritt, verspottest du.
Tun und sagen, anpflanzen und ernten, was du nicht verstehst? Intransparent sein, in gläsernen Zeiten? Anders sein als du? Das scheint dich zu provozieren. Also her mit den Gesetzen, dem Ministerium.
»Als kultureller Apparat ist die Orientalistik rundum Aggression, Aktivismus, Beurteilung, Wille zur Wahrheit und zur Erkenntnis«, schreibt E. W. Said. So gesehen bist du der ewige Orientalist. Und im Grunde fällt alles darunter, alles, was sich außerhalb deiner Entität befindet: die andere Kultur, die andere Sprache, die andere Klasse, die andere Farbe, das andere Geschlecht und der andere Zugang. Aber woher denn eigentlich diese Ungeduld und Aggression?
Es hängt doch meistens davon ab, in welchem Zeitmaß man sich bewegt: Manches muss ankommen, oder kommt nie an, manches erschließt sich erst langsam, quasi am Ende des Bildes. Wenn du einen Teppich webst, tust du zweierlei, du wanderst quer zum Lauf und denkst das Muster doch an der Kette entlang. Und der Faden verfängt eben nur, wenn er auf- und abtaucht. Und mancher zieht das Abtauchen vor, den Untergrund, die Inkonsistenz, das Wachsen, Werden, den Aufstand des Lebendigen gegenüber deinem Gesetz.
Gilles Deleuze und Félix Guattari beschreiben in ihrem Konzept der littérature mineure, den revolutionären Charakter von Literatur. Ausgehend von Kafka als Zugehörigem der deutsch-jüdischen Minderheit in Prag finden sie im literarischen Sprechen den Ort des Kleinen, den der Minderheit, gegenüber dem Ort der Macht. Als Gegensatz zur homogenen Mehrheit, welche die Norm, die Macht, die Kontrolle zu ihrem Selbsterhalt dringend benötigt, ist jede Minderheit in der Lage, Lücken zu suchen und zu erschaffen, in Bewegung zu bleiben, zu werden.
Die Betonung liegt hier im Werden, in der »Kraft der Variation«. Eine fest gefügte Identität oder Subjektivität gibt es nicht. Genau darin liegt ihr politisches Potential. Und genau das fürchtest du.
Also ist Literatur revolutionär, ohne engagierte Literatur sein zu müssen. In ihrem Werdecharakter behauptet sie nichts, bildet nichts ab oder nach, was du erkennen und zerstören könntest, sondern wird zum Akt, zum Sprechakt, der unzählige Abweichungen und Alternativen zur gegebenen Norm entwickelt. Die Revolution findet im Sprechen statt, das sich einer unfertigen, tastenden, offenen Sprache bedient: »Die Sprache muss danach streben, durch ihre syntaktischen Möglichkeiten und über syntaktische Umwege auszuprobieren, das Leben in den Dingen zu offenbaren.«
Wir ziehen ebenfalls den Begriff des Lebens deinem Sicherheitsdenken vor. Ziehen das stotternde Aufbegehren des Lebendigen in der sich stotternd äußernden Sprache, das Werden, und sogar Entwerden, deinem Sein vor.
Denn wir trauen deinem Zeugnis schon lange nicht mehr, deinem Sprachduktus, der schamlosen Bühne deiner Kompetenz, Welterklärung und verkappten Gewalt. Du hältst so mühsam die Konstruktion deiner Welt, die symbolische Ordnung deiner selbst zusammen, dass es schon komisch wirkt. Und nur im Schlaf zuckst du wahrscheinlich ebenso unkontrolliert und sympathisch wie alle. Aber kaum bist du wieder wach, marschierst du in den Kampf.
Und fast möchten wir lachen und sagen: nur weiter so! Denn sobald du deine eigene Leere wirklich gewahrst, wirst du abfällig und neidisch auf alle, denen du ein niederes Erkennen, niederes Sein, niederes Recht andichtest, um sie alsbald um ihren größeren Lebensgenuss, besseren Sex und mehr Werdensfreude zu beneiden.
Es gilt also, dich immer wieder zu beschwichtigen. Mit Geduld, mit Scherzen und Märchen, mit einem Gespräch, durch welches jene Zärtlichkeit streift, die sogar dich erreicht, vielleicht sogar meint, denn das »bucklicht Männlein« ist ja mit Recht bedürftig. Seine Leere ist real. Und ist auch die unsere.
Und es lohnt sich übrigens, wenn man die Verborgenheit und Unverstandenheit der Dinge und Menschen nicht erträgt, einen winzigen komparatistischen Schritt zu tun: Die Offenbarung heißt im Lateinischen revelatio. Entschleierung also. Das »re« aber steht doch auch für ein »wieder«. Die Entschleierung der Geheimnisse ist also bereits ihre Wiederverschleierung – egal wie nervös dich dieser Umstand macht.
Quellen:
– Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka, Frankfurt am Main 1976
– Elias Kreuzmair, »Die Mehrheit will das nicht hören. Gilles Deleuze’ Konzept der littérature mineure«, in: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal, Frankfurt am Main 2010
– Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2009