Die Vergangenheit breitet sich in mir aus wie etwas Zersetzendes, dem ich fortwährend das Zusammensetzen entgegenstellen möchte. Es muss daran liegen, dass die Geschichtsschreibung vor allem zerstörerische Gewalt aufführt, die, wäre sie das Einzige, was wirklich Vergangenheit war, Existenz zu begründen kaum in der Lage wäre. Der lebendige, friedfertige Teil der Geschichte scheint verschwunden, stumm, gelöscht, verscharrt, auch wenn seine Sedimente sich ebenso abgelagert haben müssen wie die gewaltvollen Spuren patriarchaler Macht. Also grabe ich, wühle mich durch Bücher, Foren, Dokumente, fahre an Orte, über die ich gelesen habe, versuche, Erd- und Sandreste in der Hand, zu verstehen, was geschehen ist und wie. 2019 befinde ich mich im Gebiet Kaliningrad in der Gegend von Jantarnyj am Meer, wo die Nazis vor vierundsiebzig Jahren mindestens dreitausend Frauen und Mädchen ermordeten. Viele Meter unter mir, lese ich, liegen mächtige bernsteinführende Schichten. Irgendwo dort unten nahm die Geschichte einen ihrer Anfänge:
Vor fünfzig Millionen Jahren hatte der Prozess einer Verhärtung begonnen, in dem aus flüssigem, duftendem Kiefernharz, durch geologischen Druck und Umwälzungen, fossiles Material wurde, hart, haltbar, auffindbar. Manchmal finden sich Reste von Leben in den Steinen, Inklusen, zarte Mücken, Spinnen, Blüten, die jedoch nur noch die Gestalt ihres Ursprungs zeigen, nur kostbare Hohlräume sind, leere Abdrücke erloschenen Daseins.
Seit der Steinzeit wurde der baltische Bernstein als Schmuck und Grabbeigabe verwendet und auf Handelswegen, den »Bernsteinstraßen«, bis ans Mittelmeer und nach Mykene getragen. Unter den Griechen erwähnen Euripides und Aischylos den Stein, kennen seine elektrisierende Wirkung; in Rom wurde für eine Bernsteinfigur mehr als für einen Sklaven gezahlt, und der sadistische Kaiser Nero ließ die Netze der totgeweihten Gladiatoren mit Bernstein schmücken. Das frühe Mittelalter sah vor allem die Brennbarkeit des »Börnstein«, verwendete ihn in der Medizin und als Potenzmittel und trieb Handel bis nach Ägypten. Nachdem der Deutsche Orden im 13. Jahrhundert das Samland gewaltsam kolonisiert hatte, führte er strenge Gesetze ein, da die ortsansässige Bevölkerung, soweit sie noch am Leben war, Kuren, Semgallen, Lettgallen und Prußen, den im Überfluss vorhandenen Stein auch als Licht- und Wärmequelle nutzte. Das von nun an geltende »Regalrecht« sicherte den Deutschrittern das Monopol auf den Handel, während es die ursprünglichen Strandbewohner*innen zwang, den angeschwemmten Bernstein zu sammeln und an die »Strandherren« abzugeben. Wer dagegen verstieß, wurde vor Ort hingerichtet. Über lange Zeit war Unbefugten das Betreten der Strände generell verboten. Als Schmuckstein blieb der Bernstein bis ins 18. Jahrhundert dem Hochadel vorbehalten. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Gesetze zur Bernsteingewinnung gelockert und die Sammelrechte vom Staat verpachtet.
Mitte des 19. Jahrhunderts begann der systematische Abbau durch verschiedene Firmen. Am erfindungsreichsten war der jüdische Unternehmer und reguläre Pächter Moritz Becker aus Danzig. Unter seiner Leitung wurde, neben der Gewinnung im Kurischen Haff und in der Ostsee, in Kraxtepellen-Palmnicken die Grube »Anna« eröffnet, das ertragreichste Bernsteinbergwerk der Geschichte, ca. 50 km vom damaligen Königsberg entfernt. Hier wurden zeitweilig mehrere Hundert Tonnen fossiles Harz jährlich gefördert. Über tausend Menschen aus der Region fanden Arbeit, Krankenversorgung und Altersabsicherung. Unter der Leitung seiner Frau entstanden Vereine für Wohltätigkeit und Frauenbildung, große Teile ihres Vermögens flossen in soziale Einrichtungen.Von Antisemiten öffentlich diffamiert, des Monopols und der Schädigung der »heimischen Industrie« beschuldigt, verkaufte Becker Ende des Jahrhunderts seinen gesamten Besitz an den Staat und verließ Ostpreußen.
Die Nationalsozialisten hegten dreißig Jahre später großes Interesse, den um die Jahrhundertwende eher unpopulär gewordenen Bernstein als besonders »deutschen« Schmuckstein neu zu etablieren (in Ostpreußen war die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 bereits die stimmenstärkste Partei nach Wahlkreisen). Zahlreiche Ehrenplaketten für die Olympischen Spiele 1936 und verschiedene andere Wettbewerbe, aber auch Einzelstücke wurden direkt durch die Reichskanzlei in Berlin bei der »Staatlichen Bernsteinmanufaktur« in Königsberg bestellt. Nachdem 1939 die Zentraldienststelle T4 beauftragt worden war, Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu vernichten, wurden 1940 die Täter*innen von Soldau (Kommando Lange) nach vollzogenem Mord an beinahe 2000 Menschen u. a. mit Bernstein belohnt.
Die längst stillgelegte »Anna-Grube« in Palmnicken/Jantarnyj wurde 1945 zum Ort eines Massakers, welches die Nazis an jüdischen Frauen und Mädchen verübten, als sie beschlossen, Überlebende aus den Außenlagern des KZ Stutthof in der »Anna-Grube« einzumauern, und sie, als sich der Plan als unmöglich erwies, am Strand vor der Grube ins Eismeer trieben und erschossen.
Im Hebräischen, so schreibt die Rabbinerin und Autorin Delphine Horvilleur in ihrem Buch Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, stehe der Begriff nekeva gleichermaßen für die Höhle wie auch für das Weibliche.
Das Massaker an den Frauen vor der »Anna-Grube«, vor der Höhle, stellt für mich einen inneren Ausgangspunkt des Erzählens dar. Die Ausbeutung und schließlich massenhafte Zerstörung von Frauenkörpern und die monströs misogyne »Männerphantasie«, die Körper der Frauen loszuwerden, indem man sie in einer Grube, einem Loch einmauert, kann nicht Handlung eines Romans sein, sondern nur sein Anlass.
Es ist mir wichtig, genauso im Hinblick auf rechte, revisionistische Tendenzen in der Gegenwart, nicht nur die braune Geschichte des Bernsteins, sondern auch eine Art literarisches Gedenken an die misshandelten und ermordeten Frauen der Vergangenheit zu schreiben. Es ist ein Schreiben, das zwar von den gewaltvollen Fakten ausgeht, aber die fehlenden, die leisen und unsichtbaren Teile der Geschichte sucht, die Randfiguren, die vergessenen, stumm gemachten Frauen, keine Heldinnen oder Musen, sondern Frauen, die versuchten, selbst ihr Dasein und seine diversen Formen zu behaupten, Frauen, die so oder anders oder anders oder anders waren, Frauen, die fehlen – unter ihnen: Kazimira.
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Jantarnyj 2019
Quellen:
Gisela Reineking von Bock, Bernstein. Das Gold der Ostsee, Callwey Verlag, München 1981
Delphine Horvilleur, Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Hanser Berlin, München 2020
Ernst Klee, »Euthanasie« im Dritten Reich. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, FISCHER Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2010
Andreas Kossert, Damals in Ostpreußen. Der Untergang einer deutschen Provinz, Pantheon Verlag, München 2010