Wer hätte damit gerechnet? Aus dem Blauen heraus wurde 2013 ein totales Bowie-Jahr. Für mich persönlich ging das mit einem Aha-Moment einher. Mir wurde klar, warum mich dieser Künstler geprägt hat wie kein anderer. Und das, obwohl es Musiker gab, die toller waren, und Popmomente, die sich tiefer in meine Synapsen eingegraben haben als alles, was ich mit und dank Bowie erlebt habe. – Ganz abgesehen von dem Umstand, dass es, seit ich Bowie vor gut dreißig Jahren für mich entdeckt habe, ganze Dekaden gab, in denen er mich kaum interessiert hat. Schon gar nicht, was er in der jeweiligen Gegenwart tat.
Auch Bowies loyalste Fans hatten wohl nach fast zehn Jahren, in denen er keine Musik veröffentlicht und sich nur ganz sporadisch in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, kaum zu hoffen gewagt, dass da noch etwas kommt. Im Sommer 2004 hatte er bei der Tournee zu seinem bis dahin letzten Album Reality einen Herzinfarkt erlitten und die Tour abgebrochen, im November 2006 war er dann zum letzten Mal auf der Bühne gestanden, für ein Duett mit Alicia Keys. Die beiden hatten Changes zusammen gesungen, den Song aus dem Jahr 1971, der nie ein Hit war, aber zu Bowies bekanntesten zählt – nicht zuletzt, weil sich der Text wie Bowies künstlerisches Manifest liest.
»Every time I thought I’d got it made / It seemed the taste was not so sweet / So I turned myself to face me / But I’ve never caught a glimpse / Of how the others must see the faker / I’m much too fast to take that test.« (Changes, 1971)
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Dass Bowie ausgerechnet diesen Song bei seinem möglicherweise letzten Auftritt überhaupt performte, musste man geradezu als Epilog seiner fast fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere verstehen. Spätestens im Januar 2012, anlässlich seines 65. Geburtstags, waren sich die Popjournalisten und Kommentatoren dann einig: Bowie hatte sich zurückgezogen, sang- und klanglos. Man verabschiedete ihn quer durch die Feuilletons brav in die Rente.
Ob Bowie nun aber noch als Künstler aktiv ist oder nicht: Sein Werk – nicht nur die Musik, auch die Bühnencharaktere – steckt in unserer kulturellen DNA. Referenzen an Bowie tauchen quer durch alle Kunstformen immer und überall auf: Bei Musikern, die in Nischen arbeiten, ebenso wie in Hochglanz-Modemagazinen – oder zum Beispiel auch im britischen Pavillion auf der letzten Kunst-Biennale in Venedig. Mit schöpferischer Rastlosigkeit hatte Bowie innerhalb weniger Jahre ein weitreichendes Bezugssystem geschaffen, dem man, ob man seine Musik mag oder nicht, kaum entgehen kann.
Ein aktuelles Beispiel: Allein auf der Berlinale 2014 tauchten Bowie-Bezüge in gleich vier der etwa zwanzig Filme auf, die ich quer durch alle Genres gesehen hatte: In zweien, dem Nordirlanddrama ‘71 und der Coming-Of-Age-Geschichte God Help The Girl, wird die Frage diskutiert, ob Bowie nun eher was für Jungs oder für Mädchen ist – was einen der vielen, Geschlechtergrenzen subvertierenden Subtexte von Bowies Schaffen streift. Dann die großartige Szene im kurzweiligen Hongkong-Horrorfilm The Midnight After, in der ausgerechnet Zitate aus Space Oddity die apokalyptische Leere erklären sollen, die sich über die sonst so wuselige Stadt gelegt hat. Nebenbei wird kurzerhand behauptet: Bowie nicht zu kennen heißt – offensichtlich auch im fernen Osten – keine Kultur zu haben. Der vierte Bowie-Moment setzte auf Überwältigung durch den Song »Heroes«, ein in allen möglichen pathosträchtigen Situationen (von der Eröffnung der Olympischen Spiele in London bis zur Schließung des Technoclubs Tresor an seiner legendären Ursprungs-Location) gerne zitiertes Stück Popgeschichte. Zu hören war es im Abspann des darüber hinaus nicht sonderlich interessanten schwulen Selbstfindungsdramas Praia do Futuro.
Bowie also schien in Rente gegangen zu sein – und man vermisste ihn. Als er genau ein Jahr später, im Januar 2013, an seinem 66. Geburtstag ganz überraschend Where Are We Now ins Netz stellte, eine elegische Reminiszenz an die Zeit, die er in den späten Siebzigerjahren in Berlin verbracht hatte, löste das geradezu hysterische Reaktionen aus.
Zwei Monate später erschien dann das deutlich weniger elegische Album The Next Day. Allerdings blickt Bowie auch hier zurück, tut das aber mit einem Augenzwickern und moderiert sein Verschwinden, indem er einen roten Faden in sein Gesamtwerk malt – das sowieso weitaus stringenter ist, als es das Journalistengerede vom »Mann mit den tausend Gesichtern« nahelegt. Monatelang wurde Bowie gefeiert, auf allen Kanälen.
Von diesem clever eingefädelten Publicity-Stunt wussten angeblich nicht einmal die Kuratoren der Ausstellung David Bowie is. Die war, perfektes Timing, von März bis August 2013 im Londoner Victoria and Albert Museum zu sehen, der weltweit größten Sammlung von Kunstgewerbe und Design. Bowie hatte den Kuratoren uneingeschränkten Zugang zu seinem Privatarchiv ermöglicht, war darüber hinaus aber nicht involviert. Und was der Mann alles gesammelt hat! Offenkundig war Bowie bereits als Teenager überzeugt gewesen, dass sich die Nachwelt im Detail dafür interessieren würde, wofür er sich mal interessiert hatte.
Das Feedback auf diese Kostüm- und Memorabilia-Show war enorm, weit über die Grenzen Londons hinaus – auch wenn man sich dort besonders begeistert zeigte, den verlorenen Sohn der Stadt wenigstens in Gestalt seiner Kostüme noch einmal zurückgeholt zu haben.
Bereits vor dreißig Jahren hatte Bowie seiner Heimatstadt für immer den Rücken gekehrt und in Los Angeles, in Berlin, der Schweiz, die meiste Zeit aber an seinem aktuellen Wohnort New York gelebt. Dieser Umstand wird in Großbritannien regelmäßig beklagt. Man nimmt ihn – nicht nur auf der Insel – immer noch als durch und durch englischen Künstler wahr, nicht zuletzt, weil er einige sehr »englische« Popkünstler mit seiner Ästhetik geprägt hat – obwohl er, was seine Einflüsse angeht, eklektisch und international ausgerichtet war wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit.
Doch wofür Bowie nicht alles Projektionsfläche ist! Sogar vor dem entfesselten Finanzkapitalismus soll er seine Heimatstadt retten. So schreibt etwa Geoffrey Marsh, Kurator der Bowie-Ausstellung, im Einführungstext des Ausstellungskatalogs: »Will Ziggy, like King Arthur, now remain sleeping forever or will he/she return to save mystic Albion from its enemies? Is Major Tom still drifting? Or has he refocused or reconnected with others to overthrow the London of global capitalism?«
Jedenfalls: In der Geschichte des traditionsreichen Museums war keine Ausstellung schneller restlos ausverkauft als David Bowie Is. Im Anschluss begann die Show als David Bowie ihre Wanderung um die Welt – in jeweils leicht modifizierter Form: Nach London folgten Toronto und São Paolo; nach Berlin stehen bislang Chicago, Paris und Groningen auf dem Plan: In Toronto lag der Fokus auf Bowie, dem begeisterten Leser. Die 100 ihm wichtigsten Bücher wurden vorgestellt. Im Martin-Gropius-Bau in Berlin liegt ein Schwerpunkt naheliegenderweise auf seinen Jahren in der Mauerstadt.
Fast genauso überraschend wie Bowies Wiederauftauchen war für mich, dass ich mich über den Anlass freute, mich einmal mehr ausführlich mit Bowie zu befassen. Überraschend insofern, als es doch über dreißig Jahre her war, dass ich ihn als Zwölfjährige für mich entdeckt hatte: Let’s Dance, sein größter Hit, war damals Auslöser meines Interesses. Doch weil sein Soundtrack zum Film Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo schnell im einzigen Plattenladen weit und breit in der taschengeldfreundlichen 5-Mark-Grabbelkiste lag, landete ich bald bei der experimentellen Phase von Bowies Siebzigerjahren, bei Songs der Alben Low und Station to Station – deutlich avantgardistischere Musik als alles, was mich seinerzeit sonst interessierte. Und es war toll. Bowie eröffnete mir eine neue Welt, wie wahrscheinlich sehr vielen anderen Kleinstadt-Jugendlichen.
Der Musikjournalist John Harris hat es in der sehenswerten BBC-Doku Five Years (2013), in der fünf für Bowies Karriere zentrale Jahre beleuchtet werden, pathos-triefend, aber treffend formuliert: »He’s seen the cosmos in the bus stop.« Morgen Abend wiederholt Arte – wenn auch in einer scheußlich synchronisierten Fassung – die Doku unter dem deutschen Titel David Bowie, der Weg zur Legende.
Nicht nur ließ Bowie eine kreischend hedonistische, manchmal auch düster monochrome Ästhetik in dröge Vor- und Kleinstadtwelten einbrechen. Er eröffnete Auswege, die bei aller Abgefahrenheit erstaunlich zugänglich waren. Und obwohl das Formulieren von Utopien keineswegs Bowies Interesse war, obwohl er seine Kunstfiguren oft in dystopische Szenerien steckte, enthielt seine Kunst eine optimistische Botschaft: Gesellschaftliche oder auch ästhetische Widersprüche lassen sich auflösen, indem man sie einfach ignoriert.
Meine ganze vorpubertäre Kindheit lang war ich mir sicher gewesen, dass ich es als Junge besser gehabt hätte. Dank Bowie verstand ich, dass man sich an solchen Details gar nicht lang aufhalten musste. Und nicht nur in Geschlechterfragen: Bowie befreite sich und andere von so einigem Identitätsballast.