Drei Wochen lang war das politische Zentrum von Taipeh ein Marktplatz des offenen Diskurses. Was als Studentenprotest gegen ein umstrittenes Handelsabkommen mit der Volksrepublik China begonnen hatte, erreichte mit der Besetzung des Parlaments am 18. März einen dramatischen Höhepunkt und ist inzwischen zu einer breiten Bürgerbewegung geworden. Auf verschiedenen Bühnen und Foren vor dem Parlamentsgebäude wird lebhaft debattiert, oft bis in die späte Nacht hinein. In Zeitungskommentaren, Fernsehnachrichten und Blogs setzen sich die Diskussionen fort. Dass junge Leute von der politischen Elite ihres Landes frustriert sind, kommt oft vor. Dass Menschen gegen ein Handelsabkommen protestieren, das kleinere Unternehmen übermächtiger Konkurrenz auszusetzen droht, ist wenig überraschend. Aber die gegenwärtigen Vorgänge in Taiwan haben noch eine ganz andere Dimension: Unüberhörbar artikuliert die junge Generation ein Selbstverständnis, das jahrzehntelang alles andere als selbstverständlich war. Am 7. April 1989 kam ein Bürgerrechtler namens Cheng Nan-jung seiner drohenden Verhaftung zuvor, indem er sich selbst verbrannte. Sein Verbrechen: Eintreten für ein unabhängiges, demokratisches Taiwan. Als die Studierenden am Montag die Räumung des besetzten Parlaments ankündigten, taten sie das bewusst am 25. Todestag dieses Mannes, dessen berühmtester Satz den Anspruch der gegenwärtigen Protestbewegung auf den Punkt bringt: »Von jetzt an ist es unsere Sache.« Als Cheng Nan-jung ihn schrieb, war er Ausdruck opferbereiter Selbstverpflichtung. Wenn der Satz heute auf tausenden Facebook-Seiten zitiert wird, ist er Zeugnis eines neuen taiwanischen Selbstbewusstseins.
Gestern um achtzehn Uhr haben die Studierenden ihre Ankündigung umgesetzt und das Parlament verlassen. Von dreißigtausend Menschen wurden sie begeistert empfangen. Die Besetzung eines Parlaments ist ein undemokratischer Akt, aber in diesem Fall sind die Besetzer geworden, was die gewählten Parlamentarier offenbar nicht mehr waren: Volksvertreter. Laut jüngsten Umfragen glauben siebzig Prozent der Taiwaner, dass durch die Protestbewegung die Demokratie in ihrem Land vorangebracht wurde – die konkreten Forderungen der Studierenden allerdings bleiben unerfüllt. Zwar hat der Sprecher des Parlaments Entgegenkommen signalisiert, aber der Präsident will das Handelsabkommen unbedingt durchboxen. Auch ihm scheint es um mehr zu gehen als um den angeblichen Nutzen des Abkommens für die taiwanische Volkswirtschaft. Immer mehr Taiwaner glauben, dass Präsident Ma Ying-jeou als derjenige in die Geschichtsbücher eingehen will, der die friedliche Wiedervereinigung mit dem Festland herbeigeführt hat. Wenn das stimmt, verheißt es für die Zukunft nichts Gutes. Junge Taiwaner finden es schon absurd, in ihren Reisepässen die Länderangabe Republik China zu finden. Die Vorstellung, dort könnte eines Tages Volksrepublik China stehen, ist für sie inakzeptabel. Mit der großen Abschlusskundgebung hinter dem geräumten Parlament endet also lediglich eine Phase des Konflikts. »Die Räumung ist keine Kapitulation«, ruft ein Sprecher unter großem Beifall. »Wenn der Präsident unsere Stimme weiterhin überhört, dann kommen wir zurück.«