Vor wenigen Tagen bin ich zu einem zweimonatigen Besuch in Taipeh eingetroffen – und sogleich in eine Auseinandersetzung hineingeraten, die das ganze Land erfasst hat. Während die westliche Welt gebannt auf Russland und die Ukraine schaut, formiert sich in diesen Wochen in Taiwan eine der größten Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte.
Den Anlass bildete ein von Präsident Ma Ying-jeou an den parlamentarischen Institutionen vorbeigeschleustes und in seinen Auswirkungen umstrittenes Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China. Der Widerstand gegen den wachsenden Einfluss der Volksrepublik schwelt in Taiwan seit Jahren. Nun formiert er sich neu, angeführt von einer jungen Generation, deren Selbstbewusstsein, Wagemut und organisatorisches Geschick die gesamte Gesellschaft aufgerüttelt haben. Seit dem 18. März halten Studenten das Parlament besetzt und fordern eine offene Debatte über das Abkommen und seine Folgen. Schwarz haben sie zu ihrer Farbe gewählt, die Sonnenblume zu ihrem Symbol, Facebook ist das primäre Medium der Kommunikation und der größte Unterstützer womöglich der Präsident selbst, dessen hochmütige Missachtung demokratischer Grundsätze wachsende Teile der Bevölkerung erzürnt. Im Kern nämlich geht es um mehr als freien Handel: Droht der taiwanischen Wirtschaft der Ausverkauf an den säbelrasselnden Riesen auf dem Festland? Wie kann das kleine Taiwan dem Vereinigungsstreben des Pekinger Regimes trotzen und seine demokratische Identität bewahren? Und überhaupt: Wie bleibt man frei in politischer Isolation und angesichts der militärischen Drohgebärden des großen Nachbarn?
Als am 23. März ein radikaler Teil der Studenten die Besetzung auf den Regierungssitz ausweiten wollte, schlug die Polizei mit einer Härte zurück, die es in Taiwan seit dem Übergang zur Demokratie in den Neunzigerjahren nicht gegeben hat. Das Ergebnis zeigte sich am vergangenen Sonntag, als eine halbe Millionen Menschen unter dem Motto »Die Demokratie verteidigen, das Handelsabkommen zurückziehen« die Straßen der Hauptstadt Taipeh überschwemmten. Friedlich und auf eine für die Regierung beängstigend gut organisierte Weise. Alle Fernsehsender des Landes waren live dabei, als ein Anführer der Bewegung, der 26-jährige Politikstudent Lin Fei-fan, dem Präsidenten ebenso ruhig wie entschieden klarmachte, dass dies erst der Anfang sei. »Präsident Ma täte gut daran, auf die Stimme seines Volkes zu hören«, rief er unter stürmischem Applaus. Wer taiwanische Studierende – so wie ich während meiner hiesigen Lehrtätigkeit – vor allem als höflich, fleißig und respektvoll bis zur Unterwürfigkeit kennengelernt hat, musste sich ob dieser Töne die Augen reiben. Vielen Taiwanern geht es ähnlich, und nicht allen gefällt es. Regierungstreue Medien verunglimpfen die Protestierenden als aufrührerischen Mob, aber am Rand der Demonstration war dutzendfach zu beobachten, wie ältere Menschen sich vor Zelten und Info-Ständen verbeugten und den Studenten für ihr Engagement dankten. Es wirkte wie ein Schulterschluss zwischen jenen, die unter der jahrzehntelangen Alleinherrschaft der KMT gelitten haben, und den Jungen, die während des achtjährigen Interregnums von Ex-Präsident Chen Shui-bian (2000-2008) groß geworden sind. Wohin die Bewegung führen wird, ist derzeit völlig offen. Der Präsident lehnt Verhandlungen über den Inhalt des Abkommens ab, die Studenten haben sich in und um das Parlamentsgebäude eingerichtet und sind vom Echo auf ihre Aktionen spürbar beflügelt.
In Deutschland dürften von den Vorgängen wenige Menschen etwas mitbekommen haben. Ein in seiner uninformierten Herablassung peinlicher Beitrag auf Zeit Online (»Taiwan fürchtet chinesische Einwanderer«, vom 26. März) gehört zu den wenigen Artikeln, die sich des Themas immerhin anzunehmen versuchten. Und heute berichtet die taz unter der Schlagzeile »Maidan made in Taiwan« ausführlich über die Situation. Ansonsten gilt, dass deutsche Medien zwar gerne China kritisieren, aber der kleinen Insel, die seit Jahrzehnten unter der Bedrohung durch chinesische Raketen lebt, keine Beachtung schenken. Schade, denn an wenigen Orten der Welt wird derzeit so leidenschaftlich um Demokratie gerungen wie hier.