Der Tempel liegt in den waldreichen Hügeln westlich von Kyoto. Offiziell heißt er Saihō-ji, Tempel der Westlichen Düfte, bekannter ist er unter dem Namen Kokedera oder Moos-Tempel. Sein Garten gehört zu den schönsten in Japan, aber wer ihn besichtigen will, muss zunächst einen Brief mit frankiertem Rückumschlag schicken und den Besuch anmelden. Die Antwort kommt in Form einer Postkarte, die an einem bestimmten Tag zum Eintritt berechtigt. Eine Online-Anmeldung mit Formularen in englischer Sprache gibt es nicht, weshalb sich außer mir nur wenige Ausländer unter den hundert Personen befinden, die an diesem heißen Sommertag vor dem Eingangstor warten. Die auf zwei Stunden begrenzte Besuchszeit beginnt um 13 Uhr.
Eine Viertelstunde vorher heißt ein Mitarbeiter des Tempels die Besucher willkommen. Wir werden in eine mit Tatami und rotem Filz ausgelegte Gebetshalle geführt. »No photos« steht auf dem Schild am Eingang. Alle ziehen die Schuhe aus und setzen sich vor niedrigen Schreibpulten auf den Boden. Pinsel und Papier liegen bereit, dazu ein gelbes Blatt mit dem Text des berühmten Herz-Sutra. Shakyo heißt die meditative Übung, einen klassischen Text per Hand abzuschreiben. Sobald alle Platz genommen haben, senkt sich Stille über den Raum. Durch offene Seitenwände weht der Duft von Zypressenholz herein.
Die chinesische Fassung des Herz-Sutra, die alle Besucher des Kokedera kopieren, stammt aus dem siebten Jahrhundert und enthält in konzentrierter Form die Grundsätze des Mahayana-Buddhismus. Alles kreist um den Begriff der Leere, aber die Verdichtung auf 260 Zeichen ohne Interpunktion erschwert das Verständnis sehr. Als drei Mönche hereinkommen und das Sutra laut und schnell zu rezitieren beginnen, wird aus den Wörtern vollends ein bloßer Fluss von Rhythmus und Melodie, jedenfalls für mein uneingeweihtes Ohr. Einige Besucher summen leise mit, während sie das Sutra abschreiben.
Nach vierzig Minuten bin ich fertig. Nur noch meinen Namen und einen Wunsch muss ich eintragen, dann kann ich das Blatt auf dem Altar im Zentrum der Halle ablegen. Im Jahr 1338 wurde das Anwesen des japanischen Prinzen Shōtoku in einen Zen-Tempel umgewandelt, und von heute an werden die Mönche des Kokedera mich in ihre Meditationen einschließen und für die Erfüllung meines Wunsches beten. Die Geste erscheint mir ungewöhnlich und großzügig. Normalerweise erinnern sich Reisende an den Ort ihres Besuchs; dieser Tempel bewahrt seinerseits die Erinnerung.
Im Garten bedeckt Moos den sanft abfallenden Boden. Im Lauf der Jahre hat es Steine und Baumstämme in Besitz genommen und säumt in allen Schattierungen von Grün die Ufer eines Teiches, der wie das Schriftzeichen für Herz geformt ist. Sonnenlicht fällt durch die Bäume, Karpfen ziehen träge durch das klare Wasser. Alle Tempel in Kyoto sind zauberhaft, aber in vielen kämpft der Zauber mit dem täglichen Andrang derer, die ihn genießen wollen. Gestern im Kinkaku-ji, dem Goldenen Pavillon, war ich einer von tausenden, die im Gänsemarsch durch die Anlage geschleust wurden. Im Kokedera dagegen herrscht Ruhe. Das Moos dämpft die Geräusche und färbt das Licht, und die wenigen Besucher zerstreuen sich auf dem weitläufigen Gelände.
Zu schnell gehen die zwei Stunden zu Ende. Dankbarkeit ist etwas, das man eigentlich Menschen gegenüber empfindet, aber auf Reisen können es auch Orte sein. Ich jedenfalls habe kein besseres Wort für das Gefühl, das mich zum Ausgang begleitet. Am Tor ein letzter Blick zurück, die Hügel hinter dem Kokedera glänzen im Sonnenlicht. Eine Stelle aus Camus‘ düsteren Tagebüchern der Fünfzigerjahre fällt mir ein: Auf Reisen sitzt er an einem Strand, blickt aufs Wasser und denkt an nichts Bestimmtes. Erst beim Verlassen des Ortes fällt ihm auf, dass er eben glücklich war.