(Präsident) Ma Ying-jeou zurücktreten!
Der breite Boulevard vor dem taiwanischen Präsidentenpalast trug früher den Namen des Diktators Chiang Kaishek. Seit 1995 heißt er Kaidagelan Boulevard, benannt nach dem Ureinwohnerstamm, der im Gebiet des heutigen Taipeh lebte, lange vor der Besiedelung durch chinesische Einwanderer vom Festland – einer der vielen Orte, an denen das Ringen des heutigen Taiwan um seine Identität deutlich wird. Am vergangenen Sonntag allerdings haben sich hier rund dreißigtausend Menschen mit einem vergleichsweise klar umrissenen Anliegen versammelt: Sie fordern den sofortigen Baustopp für Atomreaktor Nummer 4, der im Norden der Insel entsteht, nur rund vierzig Kilometer vom Zentrum der Vier-Millionen-Metropole Taipeh entfernt. Über drei Atomreaktoren verfügt das Land bereits, und obwohl die taiwanische Anti-Atombewegung schon in den Neunzigerjahren entstanden ist, bedurfte es der Katastrophe von Fukushima 2011, um eine Mehrheit der Bürger von den Gefahren der Kernenergie zu überzeugen. Wenn das Hochtechnologie-Land Japan die Technik nicht im Griff hat, ist seitdem oft zu hören, dann sollten wir die Finger davon lassen. Schließlich wird auch Taiwan regelmäßig von Erdbeben heimgesucht.
Die Regierung von Präsident Ma Ying-jeou tut, was Regierungen in solchen Fällen tun: Sie spricht von ökonomischen Zwängen, malt das Gespenst steigender Strompreise an die Wand und verweist auf die Sicherheitsprüfungen, die der Reaktor bestanden hat. Dass sie trotzdem in die Defensive geraten ist, liegt nicht nur an den vielen Pannen, die den Bau des Reaktors begleitet haben, sondern vor allem an der Unbeugsamkeit eines Mannes: Lin Yi-hsiung ist in Taiwan eine moralische Instanz und so etwas wie der Vater der Anti-Atombewegung. Als Bürgerrechtler hat er 1980 sein Eintreten für eine demokratische Gesellschaft mit einem schrecklichen Preis bezahlt. Als er nach einer Demonstration verhaftet wurde und seine Frau ihn freizubekommen versuchte, drangen Unbekannte in sein Haus ein und erstachen sowohl Lin Yi-hsiungs Mutter als auch seine beiden sieben Jahre alten Zwillingstöchter. Die dritte Tochter überlebte schwer verletzt. Die Tat wurde nie aufgeklärt, aber dass die Sicherheitskräfte mit verwickelt waren, gilt als wahrscheinlich, da Lin als bekannter Oppositioneller unter ihrer ständigen Beobachtung stand. Das Haus, in dem das Verbrechen stattfand, beherbergt heute eine Kirche, der Lin Yi-hsiung als Mitglied der christlichen Minderheit Taiwans angehört. In die Räume seiner Gemeinde hat er sich letzte Woche zurückgezogen, um mit einem Hungerstreik gegen Atomkraft zu protestieren.
Seit über zwanzig Jahren kämpft der heute 77-jährige gegen die Nutzung der Kernenergie in seiner Heimat. Er hat einen Schweigemarsch über die gesamte Insel unternommen, hat Reden gehalten und Artikel geschrieben und sich in den Jahren vor Fukushima oft belächeln oder beschimpfen lassen müssen. Nun hat er angekündigt, sich zu Tode zu hungern, sollte die Regierung nicht den sofortigen Atomausstieg beschließen. Auf der Kundgebung am Sonntag fiel in jeder Rede sein Name. Einige Redner ließen durchblicken, dass sie andere Mittel des politischen Kampfes für geeigneter halten, aber niemand stellte in Frage, dass Lin Yi-hsiungs radikaler Schritt die Massen vor den Präsidentenpalast gerufen hat. Von dort formierte sich ein Protestzug, der vor dem Hauptbahnhof von Taipeh eine der Hauptverkehrsadern der Stadt blockierte.
»Keine Kernkraft! Kein zweites Fukushima!« (Fahne) Der englische Kommentar auf dem T-Shirt des Mannes liest sich auf Chinesisch: »Das eigene Land muss man selbst retten.« Ein Slogan der Studentenproteste vor wenigen Wochen.
Am frühen Montagmorgen vertrieben Polizisten die Demonstranten mit Wasserwerfern. Am Dienstag kam es vor dem Parlament zu Zusammenstößen. Lin Yi-hsiung wurde unterdessen entkräftet in ein Krankenhaus eingeliefert. Spürbar besorgt, dass sein Tod die Lage in der Stadt eskalieren lassen könnte, verkündete die Regierung einen »Arbeitsstopp« (ting gong) an der Baustelle von Reaktor 4. Um diesen Schritt nicht wie ein Einknicken aussehen zu lassen, versuchte Premierminister Chiang Yi-hua auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz zu erklären, warum ein Arbeitsstopp nicht dem von den Demonstranten geforderten »Baustopp« (ting jian) entspricht. Ich bin vermutlich nicht der Einzige, der ihm in diesem Punkt nicht folgen konnte. Inzwischen ist klar, dass eine Fortsetzung der Arbeiten am Reaktor nur nach einer Volksabstimmung möglich wäre – auch das eine Forderung der Demonstranten, die die Regierung als Sieg ihrer eigenen Vernunft auszugeben bemüht ist.
Wie es weitergehen wird, ist schwer zu sagen. Wenige Taiwaner glauben, dass ihre Regierung plötzlich auf den Weg eines vollständigen Atomausstiegs eingeschwenkt ist. Ein einfaches Weiter-so haben Lin Yi-hsiung und seine Mitstreiter ihr allerdings unmöglich gemacht. Im Bewusstsein dieses Erfolgs hat Lin Yi-hsiung am Mittwoch seinen Hungerstreik beendet.