In den letzten drei Jahren habe ich mich viel mit einem Mann beschäftigt, den bei uns kaum jemand kennt: Hong Xiuquan hieß er und war Jesus’ jüngerer Bruder, geboren 1814 in einem Dorf nahe Kanton, wie man die Stadt damals nannte. Heute liegt der Geburtsort in der Peripherie der Millionenstadt Guangzhou. Wer ihn besuchen will, muss bis zur U-Bahnstation Renhe fahren und dann einem Taxifahrer versprechen, ihn auch für den Rückweg und die eventuelle Wartezeit vor Ort zu bezahlen. Die Strecke führt an Baustellen vorbei durch graue Vorstädte. Wo früher das Dorf namens Guanlubu lag, befindet sich heute eine Gedenkstätte, denn Hong Xiuquan gilt in der Volksrepublik China als Held – wenn auch als ein halb vergessener, jedenfalls ist der riesige Parkplatz bei meiner Ankunft gähnend leer. Eine Bronzestatue zeigt den Mann so, wie Chinas Kommunisten ihn sehen wollen, als kantigen Übermenschen in martialischer Pose, den Blick fest in jene bessere Zukunft gerichtet, die heraufzuführen seine Lebensaufgabe war. »Himmlischer König« steht auf dem Sockel, unter diesem Titel herrschte er von 1853 bis 1864 über ein Territorium, das zeitweise größer war als England und Frankreich zusammen. Im Gegensatz zu seinem biblischen Bruder wollte er ein Reich von dieser Welt, auch wenn er es das »Himmlische Reich des großen Friedens« nannte: ein krypto-christlicher chinesischer Gottesstaat, dessen Aufstieg und Untergang zwanzig bis dreißig Millionen Menschenleben gekostet hat.
Es ist eine Geschichte, die mich schon lange fasziniert. Als Student in Nanjing habe ich zum ersten Mal von ihr gehört und nun beschlossen, ihre wichtigsten Schauplätze aufzusuchen, sofern es sie noch gibt. Der Besuch in Guanlubu im Mai 2015 bildet den Auftakt. Hier ist der Himmlische König aufgewachsen, in einer verarmten Bauernfamilie, die zur Minderheit der Hakka gehörte und trotz harter Arbeit kaum genug zum Überleben hatte. Über seine Kindheit wissen wir nur, dass er früh geistige Begabung erkennen ließ und die Familie sich bemühte, ihm eine konfuzianische Bildung angedeihen zu lassen, in der Hoffnung, dass er eines Tages die Beamtenprüfung ablegen und das Schicksal seines Clans zum Besseren wenden würde. Er hütete die Tiere und arbeitete sich durch das seit Jahrhunderten unveränderte Curriculum aus Klassikern und Kommentaren, so wie alle ehrgeizigen jungen Männer im chinesischen Kaiserreich. Das Dorf legte zusammen, um ihm einen Tutor zu finanzieren; wer kein Geld hatte, gab etwas Lampenöl oder Salz. 1836 durfte er zum ersten Mal an der Präfektur-Prüfung in Kanton teilnehmen, fiel aber durch. Das war nicht ungewöhnlich, fast kein Kandidat bestand beim ersten Mal, trotzdem dürfte die Enttäuschung groß gewesen sein, schließlich hatte das gesamte Dorf auf ihn gesetzt. Fortan lernte er noch fleißiger, hockte Tag und Nacht über seinen Büchern und gab nebenbei Unterricht, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Ein Jahr später reiste er erneut nach Kanton, fiel wieder durch, und diesmal warf die Enttäuschung ihn buchstäblich um. Er musste in einer Sänfte nach Hause reisen, wo er seine Familie zusammenrief, sich für sein Versagen entschuldigte und ankündigte, dass er nun sterben werde. Dann schloss er die Augen. Vierzig Tage lang lag er wie in Trance, fiebernd und delirierend, aber vermutlich ohne zu ahnen, dass er dabei war, die blutigste Rebellion in der Geschichte Chinas heraufzubeschwören.
Den Inhalt von Hong Xiuquans Fiebervisionen kennen wir, weil sein Vetter sie Jahre später, als die Rebellion ausgebrochen war, einem westlichen Missionar namens Theodor Hamberg erzählte. Wie viele seiner Kollegen war Hamberg einerseits elektrisiert von der Vorstellung, die Aufständischen könnten Chinas heidnische Massen – damals fast vierhundert Millionen – zum Christentum bekehren, andererseits irritiert von der Behauptung, Gott habe einen chinesischen Sohn. Darum aber ging es in der Vision: Hong Xiuquan wurde in einer Sänfte in den Himmel getragen, wo ihm ein bärtiger alter Mann, der ihn »mein Sohn« nannte, ein Schwert überreichte und ihn beauftragte, damit in den Kampf gegen die Dämonen zu ziehen. Unterstützen sollte ihn sein älterer Bruder, der sogleich erschien, um ihn in der Benutzung des Schwerts zu unterweisen. Ihr Hauptfeind war der Schlangenteufel Yanluo, der Fürst der Unterwelt, eine bekannte Figur der chinesischen Volksmythologie.
Was die Vision ihm sagen sollte, verstand Hong Xiuquan selbst nicht, als er langsam wieder zu sich kam. Mehrere Jahre führte er sein altes Leben weiter, lernte für die Prüfungen, fiel ein weiteres Mal durch und hätte seine seltsamen Fieberträume vielleicht vergessen, hätte ihn nicht ein Verwandter auf ein Buch angesprochen, das er aus Kanton mitgebracht hatte, ohne es zu lesen. Es handelte sich um den Traktat eines chinesischen Konvertiten mit dem Titel Gute Worte zur Ermahnung des Zeitalters, eine Mischung aus Predigten, Bibel-Exzerpten und Gebeten. Gleich die erste Geschichte erzählte von Evas Verführung durch die Schlange, in der Übersetzung genannt der Schlangenteufel. Hong Xiuquan erfuhr von einer großen Flut, mit der Gott die Menschen für ihren Ungehorsam bestraft hatte oder bestrafen würde; der Text verriet nicht, ob es sich um ein vergangenes oder zukünftiges Ereignis handelte, aber das Zeichen für Flut – auf Chinesisch hong – war dasselbe wie in seinem Familiennamen. Je mehr er las, desto besser verstand er: Der alte Mann in seiner Vision war Gott, der ältere Bruder jener Ye-su, von dem so viele Geschichten handelten, und ihr gemeinsamer Auftrag lautete, China von den Dämonen zu befreien – bloß von welchen?
Die Ausstellung in der Gedenkstätte sagt dazu wenig. Wie in vielen anderen Fällen, weiß das heutige China nicht recht, wie es sich dieser Rebellion erinnern soll. In der offiziellen Deutung war sie ein Vorläufer der kommunistischen Revolution ein Jahrhundert später, aber dass ihr Anführer sich als Sohn Gottes bezeichnet hat, scheint den Kommunisten von heute ebenso peinlich zu sein wie den Missionaren von damals. Wie die Aufständischen es schafften, das Kaiserreich an den Rand des Untergangs zu bringen, ist Historikern noch immer ein Rätsel. Viele glauben, dass ihr fanatischer Glaube eine wichtige Rolle spielte.
Meine Reisestationen folgen dem Weg ihrer Eroberungen. In der Provinz Guangxi stehe ich einige Tage später in einem Freilichtmuseum, in dem nichts zu sehen ist außer einer weiteren Statue und einem Schild mit der Aufschrift »Übungsplatz«. Hier hat Hong Xiuquan in den späten 1840er-Jahren die ersten Anhänger um sich geschart, größtenteils arme Lastträger, Köhler und Minenarbeiter. Die Bibel kannte er zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber er trug ein Schwert bei sich, das er »Schwert zur Ausrottung der Dämonen« nannte. Am Anfang wurde er verlacht, wenn er von seinem fremden Gottvater erzählte, aber mit der Zeit bekamen seine Predigten politische Untertöne. In Südchina war die Dynastie, die im fernen Peking herrschte, immer auf Ablehnung gestoßen, denn die Qing waren keine Chinesen, sondern Mandschus, ein Reitervolk aus dem hohen Norden. Je entschiedener Hong Xiuquan sie mit den Dämonen gleichsetzte, die er bekämpfen wollte, desto aufmerksamer hörte man ihm zu. Der Kaiser selbst, behauptete er schließlich, war der große Schlangenteufel und Erzfeind Gottes. Seine Anhänger horteten Waffen und Sprengstoff, und im Jahr 1851 begannen sie den Feldzug nach Norden. Unterwegs zerstörten sie alles, was an die alte Ordnung gemahnte – als wären sie ein Vorläufer der Roten Garden während der Kulturrevolution. Von heute aus betrachtet, wirken sie beinahe wie ein Urahn des »Islamischen Staates«.
Ein Jahr später, im Frühjahr 2016, stehe ich in einem Städtchen namens Qimen vor einem halb verfallenen Haus. Hier, im bergigen Hinterland der Provinz Anhui, befand sich damals das Hauptquartier von General Zeng Guofan. Nachdem der Kaiser zu spät die Bedrohung durch die Rebellen erkannt hatte, beauftragte er einen Gelehrten ohne militärische Erfahrung damit, sie zu stoppen. Bei der ersten Besichtigung seiner Truppen fiel Zeng Guofan vor aller Augen vom Pferd. In den folgenden Jahren schuf er eine gewaltige Armee, die außerhalb des staatlichen Apparats operierte und den Beamten am Hof ebenso viel Angst einjagte wie die Rebellion selbst. Heute lebt in der Ruine des Hauses ein alter Mann, der Holzkörbe flicht und sie auf dem Markt verkauft. Bereitwillig zeigt er mir verblasste Inschriften an der Wand, die die damaligen Bewohner hinterlassen haben.
1853 eroberten die Rebellen die alte Kaiserstadt Nanjing und benannten sie um in Tianjing, Himmlische Hauptstadt. Hier enden im Herbst 2017 meine Recherchen. Auf Einladung des Goethe-Instituts darf ich zwei Monate in der Stadt verbringen, wo ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal von Hong Xiuquan gehört habe. Seinen alten Palast im Stadtzentrum kann man heute besichtigen. Er starb im Frühjahr 1864, wenige Wochen bevor Zeng Guofans Truppen die Stadt stürmten, und ironischerweise starb Zeng Guofan acht Jahre später am selben Ort, in einem Pavillon des Palastgartens. Der gescheiterte Gelehrte, der zum Rebell wurde, und der erfolgreiche Gelehrte, der zum General wurde, sind einander nie begegnet. Der eine gilt heute in der Volksrepublik als Wegbereiter der kommunistischen Befreiung, dessen religiösen Fanatismus man lieber verschweigt, der andere als Volksverräter, der im Dienst einer feudalistischen Fremdherrschaft stand, dessen militärisches Genie aber in unzähligen Publikationen gewürdigt wird. Der Bürgerkrieg, der beide zu Todfeinden machte, war ein zentrales Ereignis in der Entstehung des modernen China. Im Westen ist er nur Spezialisten ein Begriff, in China steckt er im Korsett einer ideologisch verzerrten Geschichtsdeutung. Kann man diesem Umstand mit einem Roman abhelfen? Sicherlich nicht. Könnte sich der Versuch trotzdem lohnen? Ganz bestimmt!