Seit drei Wochen halten taiwanische Studierende das Parlament besetzt. Sie kämpfen gegen ein Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China und für eine transparentere Demokratie im eigenen Land. Den reaktionären Kräften auf der Insel, die eine rasche Wiedervereinigung mit dem Festland anstreben, ist das ein Dorn im Auge. Bei einem Aufmarsch mitten in der Hauptstadt Taipeh stoßen sie unverhohlene Drohungen aus.
Ein paar hundert Demonstranten drängen sich fahnenschwenkend um ein Fahrzeug. Auf der kleinen Ladefläche stehen Lautsprecherboxen, eine Handvoll Personen und in der Mitte ein Mann, der eine an Sun Yat-sen erinnernde schwarze Jacke trägt. Chang An-le heißt er, ist in Taiwan aber besser bekannt unter dem Spitznamen Weißer Wolf. Das von ihm angeführte Verbrechersyndikat hat in den Achtzigerjahren Handlangerdienste für das diktatorische Regime verrichtet. 1984 ermordeten Changs Gefolgsleute einen kritischen Journalisten in dessen kalifornischem Exil. Wie jüngst auf Spiegel Online zu lesen war, saß der Weiße Wolf zehn Jahre lang in amerikanischen Gefängnissen, hat später in der Volksrepublik China viel Geld verdient und politische Kontakte geknüpft, bevor er im letzten Herbst nach Taiwan zurückgekehrt ist – als Anführer einer undurchsichtigen Gruppierung, die ihr einziges Anliegen im Namen trägt: Partei zur Förderung der chinesischen Wiedervereinigung.
Für die Studenten, noch mehr aber für ältere Taiwaner, die sich mit ihnen solidarisieren, stellt die bloße Anwesenheit dieses Mannes eine Provokation dar. Einen Häuserblock vom besetzten Parlament entfernt und von einer Hundertschaft behelmter Polizisten abgeschirmt, beschimpft ausgerechnet ein Gangster die Studierenden als Gesetzesbrecher. Die Stimmung ist aufgeheizt, am Rand des Aufmarschs kommt es zu Rangeleien und Handgreiflichkeiten. Kameradrohnen taiwanischer Fernsehsender schweben über der Menge. »Kommt heraus und stellt euch uns!«, fordert ein Plakat auf dem Lautsprecherwagen, was angesichts der dort Versammelten als nackte Drohung verstanden werden muss. Bereits tags zuvor hatte der Weiße Wolf in einer Talkshow erklärt, dass er die Studierenden durch seine Handlanger aus dem besetzten Parlament vertreiben werde, wenn die Polizei es nicht tue. »Nieder mit der Mafia! Schützt die Demokratie!«, skandieren die Studenten. Wütend darüber, dass seine Rede von Sprechchören übertönt wird, entfährt dem Weißen Wolf ein Satz, der die tieferen Schichten des gegenwärtigen Konflikts sichtbar macht: »Ihr seid es gar nicht wert, Chinesen genannt zu werden.« Bei den jungen Leuten erntet er Lachen und höhnische Zustimmung: »Stimmt genau«, rufen sie zurück, »wir sind nämlich Taiwaner.«
Nicht allein das Ausmaß des Handels mit der Volksrepublik China steht derzeit zur Debatte, sondern die komplizierte Frage nach Taiwans gegenwärtiger und zukünftiger Identität. Bekanntlich ist es die Regierung in Peking, die für sich das Recht reklamiert, über die Zukunft der Insel zu befinden. Dieses Recht fordern die Studierenden mit dem einfachen Argument zurück, dass es ihre eigene Zukunft ist, um die es geht. In dem umstrittenen Handelsabkommen sehen sie einen Versuch Pekings, den Einfluss auf die taiwanische Politik zu verstärken. Der Regierung in Taipeh werfen sie vor, das zu verschleiern.
Nach drei Stunden ist der Spuk vorbei. Die Studierenden kehren in ihr Zeltlager zurück. Regierungstreue Medien und Mitglieder der regierenden Volkspartei (KMT) bemühen sich nach Kräften, den Vorfall herunterzuspielen. Der nicht angemeldete Aufmarsch stelle keinen Verstoß gegen versammlungsrechtliche Vorschriften dar, sagt Taipehs Bürgermeister Hau Lung-pin allen Ernstes, der Weiße Wolf und seine Gefolgsleute seien schließlich bloß »die Straße entlanggegangen«. Ist das Feigheit oder Kalkül? Manchen Vertretern des politischen Establishments scheint die Einschüchterung der Studierenden jedenfalls lieber zu sein, als sich selbst mit dem Weißen Wolf anzulegen.
Update: Der Gang der Ereignisse hat meine Berichterstattung überholt. Gestern Abend haben die Studenten verkündet, dass sie die Besetzung des Parlaments am Donnerstag vorläufig beenden wollen. Vorher gab es ein gewisses Entgegenkommen der Regierung, von dem aber sehr umstritten ist, wie weit es reicht und wie ernst es gemeint ist.