Im Januar wurde Tsai Ing-wen zum ersten weiblichen Oberhaupt des Inselstaats gewählt. Bei ihrer Amtseinführung am vergangenen Freitag war das lebensfrohe, bunte, auf Unabhängigkeit hoffende Taiwan zu besichtigen.
Draußen vor den Absperrgittern wird musiziert. Es sind junge Menschen, deren Musik von den Traditionen taiwanischer Ureinwohner inspiriert ist und deren Spruchbänder und Transparente klare Botschaften tragen: »Ich stehe für die Unabhängigkeit Taiwans« ist zu lesen und: »Solange Taiwan nicht unabhängig ist, bleibt die Bewahrung des Status quo eine Sackgasse.« Hinter der Absperrung erhebt sich die rote Backsteinfassade des Präsidentenpalastes, auf der ein großer Schriftzug die Amtseinführung der vierzehnten Präsidentin der Republik China feiert. Taiwan oder China – wenige Länder auf der Welt streiten so grundsätzlich darüber, wer sie sind und sein wollen.
Um neun Uhr morgens füllt sich der breite Boulevard vor dem Palast. Auf Großleinwänden wird übertragen, wie Präsident Ma Ying-jeou aus dem Amt ausscheidet – »Endlich muss er gehen!«, ruft ein Mann neben mir und erntet kräftigen Beifall –, bevor sich unter dem Applaus der Menge die neue Präsidentin von ihrem Platz erhebt. Vor dem Porträt von Staatsvater Sun Yatsen leistet sie ihren Amtseid und bekommt das offizielle Siegel überreicht. Die Hymne der Republik China erklingt. Bevor Tsai Ing-wen draußen auf der Hauptbühne ihre Antrittsrede hält, wird dort in einer bunten Show die Geschichte Taiwans erzählt, und zwar so, dass das chinesische Erbe als eine Komponente von vielen erscheint.
»Der Stolz Taiwans« heißt die Performance. Zuerst treten tanzende Ureinwohner auf, gefolgt von Portugiesen, Spaniern und Holländern, dann erst erscheinen in Gestalt von Vertretern der letzten Kaiserdynastie die Chinesen auf der Insel. Das war Ende des siebzehnten Jahrhunderts, den Status einer Provinz des unaufhaltsam seinem Untergang entgegen taumelnden Kaiserreichs bekam Taiwan aber erst 1887 zugesprochen. Acht Jahre später begann die japanische Kolonialherrschaft und dauerte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Danach kehrten die Chinesen zurück, diesmal in den blauen Uniformen der Volkspartei unter Chiang Kaishek, deren Schergen 1947 ein Massaker an der taiwanischen Bevölkerung verübten und das Kriegsrecht verhängten. Auf der Bühne wird eine Exekution auf offener Straße gezeigt. Im Schatten des Terrors blüht die Wirtschaft, Taiwan wandelt sich von der Agrar- zur Industriegesellschaft, und allmählich beginnt, was die Show den »Marsch der Demokratie« nennt: Der Wandel von der autoritären zur offenen Gesellschaft, die ihre Konflikte auf der politischen Bühne austrägt, statt sie an die Geheimpolizei zu delegieren. Die Marschkapelle der Streitkräfte tritt auf und spielt – vermutlich zum ersten Mal – Melodien der Ureinwohner.
Die Show ist nicht frei von Pathos, aber vor allem spielerisch und lebendig. Am Ende tanzen in Form von Bubble-Tea-Bechern und Nudelschüsseln die Errungenschaften der taiwanischen Küche über die Bühne. Geschichtsbewusst und zukunftsgewandt, leidgeprüft und lebensfroh, dem Namen nach chinesisch und in Wirklichkeit viel mehr, so inszeniert sich Taiwan zum Amtsantritt der neuen Präsidentin. Als Tsai Ing-wen selbst die Bühne betritt, ist es elf Uhr. Man hat sie oft die taiwanische Angela Merkel genannt, und als wollte sie diesen Vergleich bestätigen, hält sie eine derart nüchterne Rede, dass die begeisterten Anhänger keine Gelegenheit zum Jubeln finden. Statt mitzureißen, zählt sie auf, was zu tun ist – sehr viel – und wie sie es zu schaffen hofft: durch harte Arbeit zum Wohle aller. Kein Pathos hier und nicht allzu viel Lebensfreude, aber vielleicht tut einem so bunten Land eine etwas farblose Präsidentin gut. Den interessantesten Satz sagt sie gegen Ende: »Früher stand unsere Demokratie im Zeichen des Kampfes gegen Unterdrückung, heute steht sie im Zeichen der inneren Vielfalt.« Damit würdigt sie die Bürgerrechtsbewegung, der sie selbst entstammt, grenzt sich aber von deren lautstarkem Ruf nach Unabhängigkeit ab, der für ihre Präsidentschaft zum Problem werden könnte. Einen anderen wichtigen Satz sagt sie nicht: Das von Peking vehement geforderte Bekenntnis zum Konsens von 1992, wonach es nur ein China geben kann, kommt ihr nicht über die Lippen.
Nach einer halben Stunde ist die Rede vorbei, und der Boulevard leert sich. Es ist heiß geworden. Draußen werden Tassen und Schlüsselanhänger mit dem Konterfei der neuen Präsidentin verkauft. Dass die jungen Musiker mit dem Rücken zum Präsidentenpalast spielen, sieht nicht nach Protest aus, aber sie zeigen Präsenz. Abseits des Geschehens leistet derweil ein alter Mann seinen Beitrag zur Vielfalt der taiwanischen Demokratie: Von niemandem beachtet, schwenkt er die rote Flagge der Volksrepublik China.