Vor einigen Wochen bat eine Redakteurin des Österreichischen Rundfunks Stephan Lohse um einen Text für die Sendereihe Buch & Bühne. Autoren, die am Theater arbeiten oder dort einmal gearbeitet haben, werden eingeladen, über den Zusammenhang zwischen ihrem Schreiben und ihren Erfahrungen im Schauspiel nachzudenken. Prompt erinnerte sich der Autor an seine Zeit als Schauspielstudent in Wien. Im ersten Studienjahr mussten im Improvisationsunterricht Zettel aus kleinen Kisten gezogen werden, die für die Szenen, die die Studierenden erfinden sollten, ein Objekt, einen Schauplatz und einen Satz festlegten, der in der Szene fallen musste. Der Autor dachte sich zunächst dreißig Objekte, dreißig Schauplätze und dreißig Sätze aus und ließ dann den Zufall entscheiden. Die drei Szenen im folgenden Text beruhen auf diesem Zufall.
Aufgabe verfehlt. Kein Wendepunkt.
Die Sätze wurden in einer Zigarrenkiste verwahrt. Getippt auf schmale Streifen minderwertigen Papiers, die Risse mit vergilbtem Klebestreifen geflickt. Die Orte befanden sich in einer Dose für Tee aus Assam, die Requisiten in einer Dose für Earl Grey. Die Aufgabe bestand darin, einen Ort zu ziehen, dann ein Requisit, das sich an diesem Ort befinden sollte, und zuletzt einen Satz, der in der Szene fallen musste. Wurde der Satz als der gezogene erkannt, galt die Aufgabe als verfehlt. Die Studierenden waren dann dem ätzenden Spott des Professors ausgesetzt. Er unterrichtete seit achtundzwanzig Jahren nach dieser Methode, am Ende des Studienjahrs würde er in den Ruhestand gehen und die Orte, Requisiten und Sätze der Hochschule vermachen. Der Unterricht fand in einem der oberen Lehrsäle statt, einem Raum neben der Garderobe, aus der man das Lachen der höheren Jahrgänge hörte. Der Saal verfügte über ein flaches Podest und zwei Stuhlreihen. Mit Rupfen bespannte Rahmen markierten die Kulisse, einfache Holzwürfel dienten als Mobiliar. Der Professor saß am Rand des Podests an einem schmalen Tisch und schaltete zu Beginn jeder Szene das Bühnenlicht ein.
Seit zwei Monaten war Kuhn nun Schauspielstudent und noch immer überzeugt, vom Prüfungskomitee versehentlich aufgenommen worden zu sein als Beifang im Netz eines langwierigen Auswahlverfahrens großer Fische, eine Sprotte ohne Talent unter Dorschen, Barschen und Welsen. Im Haus einer pensionierten Opernsängerin hatte er ein Zimmer gemietet, unter der Bedingung, der Vermieterin einen Teil des Vorraums als Möbellager zu überlassen. Für monatlich 600 Schilling stapelten sich einige Sofas und Sessel, die man hier Fauteuils nannte, und ein Beistelltisch unter der Decke. Die einzige Steckdose befand sich neben dem Eingang. Kuhn zapfte sie an und verlegte mehrere Kabel durchs Zimmer. Morgens nutzte er die Bassena im Stiegenhaus, das Zimmer hatte keinen Wasseranschluss, zum Duschen ging er in die Hochschule, am Wochenende stand er in einem Emailbottich und schrubbte sich mit einem Waschlappen. Eine Heizung gab es nicht, für den Winter würde er einen Katalytofen anschaffen müssen. Ersatz für leere Propangasflaschen verkaufte die Tankstelle für 200 Schilling am Ende der Straße. Er aß Maschinensemmeln und Naturjoghurt, mittags das Tagesgericht ohne Getränk in der Hochschulcafeteria, am Wochenende kochte er auf einer einzelnen Kochplatte Kohlsuppe, in die er eine scharfe Wurst schnitt, falls die Suppe, mangels eines Kühlschranks, der den Stromkreis überlastet hätte, sauer werden sollte. Gelegentlich lud ihn seine Vermieterin auf ein Stück Linzer Torte ein. Sein monatliches Budget betrug 2500 Schilling. Mehr überwiesen ihm seine Eltern nicht. Sie hatten immer gehofft, ihr einziger Sohn würde einmal Jura studieren. Jus. So nannte man es hier in Österreich. Zum ersten Mal in seinem Leben war Kuhn arm.
Licht an. Zwei Damen stehen sich auf der Bühne gegenüber. Sie spielen pantomimisch Tennis. Trifft der Ball auf die Bespannung ihrer Schläger, machen sie ein Ploppgeräusch. Dabei sprechen sie beiläufig über Warentermingeschäfte. Ein Mann in zerfetzter Kleidung schleppt sich auf die Bühne und bricht nahe des Netzes zusammen. Eine Zeit lang ignorieren die Damen den offensichtlich verletzten Mann und setzen ihr Gespräch unaufgeregt fort. Als sich jedoch nicht mehr übersehen lässt, dass der Mann im Sterben liegt, tritt eine der Damen näher heran und berührt ihn mit dem Griff ihres imaginären Schlägers.
Dame 1: »Ihnen ist schon bewusst, dass Sie unser Spiel stören?«
Mann: »Verzeihen Sie. Es ließ sich nicht verhindern.«
Dame 1: »Warum nicht? Sie hätten sich doch auf ein freies Spielfeld schleppen können.«
Mann: »Es geht nicht um mich, Madame.«
Dame 2: »Das sagen sie alle.«
Mann: »Aber sie kommen!«
Dame 2: »Wer kommt?«
Mann: »Die Hunnen!«
Dame 1: »Welche Hunnen?«
Mann: »Die uns niedermetzeln wollen.«
Dame 2: »Das würden wir aber wissen.«
Mann: »Warum, Madame?«
Dame 2: »Ich stamme selbst von Hunnen ab. Mein Großonkel war Halbhunne. Der Hunne ist an und für sich friedliebend.«
Mann, mit letzter Kraft: »Aber nicht diese Hunnen. Sie werden kommen. Das wird unser Ende sein.«
Dame 1: »Können sie aufstehen?«
Mann, kläglich: »Nein.«
Dame 1: »Dann nehmen Sie halt in Gottes Namen meinen Schläger als Krücke. Und jetzt verschwinden Sie.«
Tumult. Die Kulissen werden umgestoßen. Eine Horde Hunnen trampelt die Szene nieder. Die Damen sterben unter den Tritten in großer Verwunderung (Wendepunkt)1. Ein Tennisball rollt über die Bühne. Licht aus. Gezogene Zettel: Tennisplatz. Krücken. »Sie werden kommen. Das wird unser Ende sein.« Eingenommener Betrag: 30,00 Schilling.
Die Euphorie, in die ihn die Aufnahme an die Hochschule versetzt hatte, war bereits nach wenigen Tagen verflogen. Kuhn fühlte sich mit seiner Sprottenbegabung mutterseelenallein. Die großen Fische hatten Phantasie, Spiellust und offenbar Talent, sie waren humorvoll, gelegentlich sogar witzig, hatten schöne Stimmen und biegsame Körper. Ihre Zuversicht schien unerschütterlich zu sein. Sie waren wahre Seminarist:innen, Kandidaten für das älteste Priesteramt der Welt, die legitimen Nachfahren antiker Schamanen, die den Regen herbei deklamierten und die Krankheiten fort. Kuhn sehnte sich nach seinem Bett im Zimmer der Opernsängerin und nach Broten mit Pflaumenmus zu 9,80 Schilling, das man hier tschechisch Powidl nannte.
Statt darin unterrichtet zu werden, die großen Texte der Dramenliteratur auf möglichst eindrucksvolle Weise vorzutragen, wie es Kuhn vom Theater seiner Heimatstadt kannte, mussten vergilbte Zettel gezogen und Szenen erfunden werden, kleine Sketche wie für Betriebsfeiern, die zügig zu erzählen waren und dennoch die Fragen nach dem »Wer«, »Wo«, »Warum«, »Wie« und »Womit« beantworten sollten, Begebenheiten, die über einen Wendepunkt verfügten, einen Konflikt beschrieben und außerdem auch noch wiederholbar zu sein hatten. Kuhn lernte, was Spieldifferenz, was Absehensleistung bedeutete, und erfuhr, dass die erzähltechnischen Voraussetzungen einer Szene ihre Infrastuktur bildeten, die aber zu verbergen sei, denn Kunst käme nicht vom Können, sondern vom Können des Könnens. Die anderen erfanden bizarre Geschichten, die ihnen reichlich Phantasie bescheinigten, meistens ging es um eskalierende Wohnungseinbrüche, die Zerschlagung internationaler Spionageringe oder religiöse Bräuche, deren Durchführung viel vergossenes Blut erforderte. Einer der Fische war ständig auf der Suche nach einem Auftragsmörder, der bereit wäre, seine Mutter zu töten, egal, ob er sich nun mumifiziert im Innern einer Pyramide befand, auf einem Vogelmarkt in Kandahar oder in einem Dorfgasthof in der Wachau. Kuhn verzweifelte. Schon morgens an der Bassena, die er mit einem Herrn teilte, der bereits während des letzten Weltkriegs hier gewohnt hatte, verkrampfte sich sein Körper. Seine Gedanken hetzten durch seinen Kopf, als seien sie auf der Flucht, so dass er nicht einen einzigen von ihnen zu fassen bekam. Sein Mund wurde trocken. Seine Hände wurden feucht, seine Knie weich und er musste ständig aufs Klo. Bevor er in die Hochschule ging, ergänzte er regelmäßig eine Liste mit zwei Spalten, die er in seinem Tagebuch angelegt hatte. In die linke Spalte trug er ein, was er als Kinderwünsche bezeichnete: Er wollte auf jeden Fall ein astreines Leben führen, wollte im Mittelpunkt stehen, alles bekommen und nichts dafür tun müssen, wollte bewundert werden, sehr gut aussehen und zwei Päckchen Zigaretten am Tag rauchen. Er wollte die Trägheit besiegen, die Scham und die Furcht. Die rechte Spalte für die Erwachsenenwünsche ließ er leer.
Im Unterricht scheiterte er mit jedem Versuch: Er betrat seine Wohnung, entdeckte ein Geschenk, das jemand dort für ihn abgestellt hatte, öffnete es und riss die Augen auf, um seine Freude über das Geschenk auszudrücken. Aufgabe verfehlt. Kein Wendepunkt. Er lief durch einen Wald, stieß auf ein wildes Tier, riss die Augen auf und versteckte sich in der Kulisse. Aufgabe verfehlt. Kein Wendepunkt. Er wartete am Flughafen auf eine Bekannte, die versprochen hatte, ihn nach langer Reise abzuholen. Er wurde versetzt. Wutentbrannt stolperte er über seinen imaginären Koffer und fiel der Länge nach hin. Aufgabe verfehlt. Kein Wendepunkt. Halb verdurstet kroch er auf der Suche nach Rettung durch die Wüste. Nach einigem Röcheln traf er auf eine Telefonzelle. Mit letzter Kraft wählte er die Nummer des Internationalen Roten Kreuzes. Auf dem Boden der Telefonzelle kauernd, wartete er auf Anschluss. Plötzlich riss er die Augen auf, dann weinte er und trank seine Tränen. Die Wahl des Schauplatzes sei zwar gelungen, die Aufgabe aber trotzdem verfehlt. Kein Wendepunkt. Als er sein Zeugnis zum Abitur erhielt, das man hier Matura nannte, und sich wegen der schlechten Noten mit billigem Whiskey betrank, wusste er bereits vorm Ende der Szene: Aufgabe verfehlt. Kein Wendepunkt.
Licht an. Hörsaal einer Universitätsklinik. Der Leiter der Chirurgie, hier nur »der Chef« genannt, betritt mit vom Einseifen nassen Händen den Saal und sieht in die Runde. Die Oberschwester trocknet ihm dienstbeflissen die Hände. Das übrige medizinische Personal bereitet Geräte und Instrumente für einen Eingriff vor, bei dem mehrere befallene Organe aus dem Oberbauch eines Patienten entnommen werden sollen. Der Chef zieht ein Paar OP-Handschuhe über und lässt das Latex schnalzen.
Der Chef: »Auf geht’s!«
Die Oberschwester reicht dem Chef einen Zauberstab. Der Chef reckt ihn in die Höhe.
Der Chef, mit Ironie: »Abrakadabra.«
Das medizinische Personal lacht. Sonst geschieht nichts. Der Chef gibt der Schwester kopfschüttelnd den Zauberstab zurück. Dann schnippt er beiläufig mit den Fingern und das Dach des Hörsaals hebt sich an und schwebt wie ein Luftschiff davon (erster Wendepunkt)2. Die candidatus medicinae reißen die Augen auf. Ein Vogel, groß wie ein Flugsaurier, schießt auf den Hörsaal zu. Er breitet seine Schwingen aus und verdunkelt dabei den Himmel. Mit einem gellenden Klagelaut begibt er sich in den Sturzflug. Dabei wird er kleiner und kleiner. Schließlich landet er auf dem ausgestreckten Zeigefinger des Chefs. Das Klagen des Tieres ist nur noch ein helles Wimmern.
Der Chef: »Guten Tag, mein Kleiner. Krank, krank. Böse, böse. Schlimm, schlimm.«
Er legt den Vogel auf den OP-Tisch und lässt sich von der Oberschwester ein Skalpell reichen.
Während er das Skalpell ansetzt, der Chef, murmelnd: »Gangrän, großflächig. Parasitenbefall. Der maligne Anteil dorsal. Situs nicht regelkonform. Necrosis, wo man hinsieht. Nur der gewagte Schnitt kann hier Heilung bewirken.« Er sieht auf. Dann bemerkt er väterlich: »Es scheint in dieser Versammlung einige empfindliche Ohren zu geben, die das Wort Blut nicht wohl vertragen können.«
Er greift in den Vogel und zieht ein längliches, bluttriefendes Organ aus dem Bauch des Tieres. Zwischen seinen Fingern verwandelt es sich in einen Bausch Holzwolle. Der Chef schnippt ihn fort, die candidatus medicinae sind sprachlos. Dann ergreift sie schallendes Gelächter (zweiter Wendepunkt). Der Chef verbeugt sich. Licht aus. Gezogene Zettel: Operationssaal. Ausgestopfter Papagei. »Es scheint in dieser Versammlung einige empfindliche Ohren zu geben, die das Wort Blut nicht wohl vertragen können.« Eingenommener Betrag: 40,00 Schilling, weil außergewöhnlich viele Studierende an der Szene beteiligt sind.
Eines morgens traf Kuhn seinen greisen Nachbarn an der Bassena. Der Herr fragte knarrend, ob das Fenster in Kuhns Zimmer auch so schlecht schlösse, in seiner Wohnung zöge es seit der Bombe wie Stöhrsuppe. Kuhn verneinte, merkte sich, dass man den Hecht hier Stöhr nannte und fragte, welche Bombe denn bitte gemeint sei. »März ’45«, sagte der Herr, »am Jahrestag des Anschlusses.« »Nein«, sagte Kuhn, bisher sei ihm diesbezüglich nichts aufgefallen, er werde aber gerne darauf achten. In diesem Augenblick blieb die Zeit stehen. Das Stiegenhaus gefror zu einer Fotografie. Der Wasserstrahl der Bassena erstarrte zum Zapfen, die Zahnbürste des greisen Nachbarn stand in der Luft. In den Stillstand hinein schneiten Einfälle wie auf schmale Papierstreifen getippt und gruppierten sich zu zahllosen Szenen, die sich mithilfe einer Ortsangabe, einem Requisit und dem Satz einer Figur bilden ließen. Es war das unendliche Archiv aller Geschichten, die Kuhn jemals erzählen würde. Endlich erkannte er das Geheimnis. Das Archiv musste ohne jegliche Zeit betreten werden. Den Stillstand, der folgte, galt es zu ertragen wie man kühn den Tod ertrug. Als der Wasserstrahl wieder floss und der Nachbar seine Zähne bürstete, fühlte sich Kuhn für den Rest des Studienjahrs unbesiegbar.
In den nächsten Wochen erfand er Szene um Szene und schenkte sie seinen Mitseminarist:innen. Mit der Zeit hörten sie auf, selbst Geschichten zu erfinden. Sie flüsterten Kuhn in einem unbeobachteten Moment zu, welche Zettel sie gezogen hatten. Kuhn versetzte sich in einen Zustand der Zeitlosigkeit, betrat das Archiv der unerzählten Geschichten und kam mit einer zurück, die sie dann als ihren eigenen Einfall ausgaben. Der Professor hielt den Jahrgang für ungeheuer begabt. Die Seminarist:innen revanchierten sich mit Mohnstriezel, Leberkässemmel, Melange oder Acidophilus-Milch. Für eine besonders verwickelte Palastangelegenheit, die sich in einer Nebenlinie des assyrischen Königshauses abspielte und gewalttätig ausgetragene Erbstreitigkeiten zum Gegenstand hatte, bekam Kuhn eine Pizza spendiert und dazu ein Spezi.
Als eines Tages die Frittaten für 6,90 Schilling bereits am 20. des Monats aus waren und Kuhn seine Suppe ohne Einlage löffeln musste, kam er auf den Einfall, mit den Geschichten aus seinem Archiv Geld zu machen. Die Dorsche, Barsche und Welse hatten wohlhabende Eltern. Und die, die keine hatten, hatten wahrscheinlich großzügige Eltern. Es würde ihnen also nicht wehtun. Außerdem würde er die Preise niedrig halten. Er begann mit einer Geschichte über einen Friedhofsgärtner, der Gedichte für Verstorbene schrieb, die von ihren Angehörigen vergessen worden waren. Als man ihm auf die Schliche kam und ihn entließ, hatte er sich bereits so sehr in seine Empörung über die lieblosen Angehörigen hineingesteigert, dass er sie zu Hause aufsuchte und ihnen durch Vorwürfe das Leben schwer machte. Er wurde angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt. Eine überregionale Zeitung bekam Wind von der Sache, und der Friedhofsgärtner wurde vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, das man hier Häfen nannte. Später betrieb er einen kleinen Privatfriedhof im 18. Bezirk. Die Geschichte war ein voller Erfolg, und der Betrag von 10,00 Schilling, den Kuhn für sie verlangte, ein guter Beginn. Er bereitete in der Küche seiner Vermieterin einen Germknödel mit Mohn und zerlassener Butter zu und servierte ihn seinem greisen Nachbarn zum Dank. Er leistete sich jetzt morgens Handsemmeln.
Licht an. Im Wohnmodul einer Mondlandefähre. Schalter, Knöpfe, beleuchtete Anzeigen, in denen Zeiger zittern. Eine Astronautin und zwei Astronauten machen zu elektronischen Klängen Gymnastik. Liegestütz, Rumpfbeugen, rhythmisches Kopfkreisen. Durchs Wohnmodul schwebend dehnen sie ihre Muskeln, dann setzen sie sich an einen Tisch und schnallen sich fest. Sie greifen nach Schläuchen, pressen sie an ihre Münder und nehmen auf diese Weise ihr Frühstück ein. Bei Kaffee aus Kunststoffbeuteln unterhalten sie sich.
Astronautin: »Von den Setzlingen sind einige heute Nacht eingegangen. Der osmotische Druck war wahrscheinlich zu hoch.«
Astronaut 2: »Meine Kristalle wachsen aber gut.«
Astronaut 1: »Mein Kaninchen atrophiert. Und es scheint intensive Träume zu haben.«
Astronautin: »Ich träume auch intensiv. Allerdings immer das Gleiche. Ich bin beim Training in der Zentrifuge. Dort wächst mir ein Bart. Jeden Abend muss ich mich rasieren, weil der Bart auf eine Länge von 50 Zentimetern angewachsen ist.«
Astronaut 1 und Astronaut 2 nicken abgeklärt: »Space bullshit.«
Astronautin: »Ach, könntet ihr bitte eure persönlichen Sachen aus der Nasszelle entfernen? (Erster Wendepunkt.) Heute morgen habe ich dort eine Zahnbürste gefunden. Sie steckte hinter dem Überdruckaggregat.«
Astronaut 1: »Meine war das bestimmt nicht. Ich weiß genau, dass ich meine nicht vergessen habe. Ich habe sie nämlich in meinen Astonautenanzug gesteckt.«
Astronaut 2: »Warum?«
Astronaut 1: »Nur für den Fall.«
Astronautin: »Für welchen Fall?«
Astronaut 1 schweigt.
Astronaut 2: »Meine war es auch nicht. Ich putze mir die Zähne nicht.«
Astronautin und Astronaut 1 gleichzeitig: »Warum nicht?«
Astronaut 2: »Ich halte das in der Schwerelosigkeit für überflüssig.«
Astronaut 1 nach einer Pause: »Vielleicht war es Sybilles.«
Astronautin: »Wer ist Sybille?«
Astronaut 1 und Astronaut 2 schweigen.
Astronautin: »Wer bitte ist Sybille?«
Astronaut 2, sehr leise: »Deine Vorgängerin.«
Astronautin: »Ich hatte keine Vorgängerin. Ihr beide wart die einzigen Missionsteilnehmer, und dann bin ich dazugekommen, weil eine Botanikerin gebraucht wurde.«
Astronaut 2, noch leiser: »Eine Botanikerin war Sybille weiß Gott nicht.«
Astronautin: »Was hat denn Gott damit zu tun?«
Astronaut 1: »Wahrscheinlich mehr als uns lieb ist. Wir wissen nicht, wo Sybille ist. Sie ist seit Monaten verschwunden.«
Während die Astronautin erfährt, dass ihre Vorgängerin, Mitglied der Mission, um an lebenden Mäuseherzen zu forschen, am Ende jeder Versuchsreihe die Untersuchungsobjekte lustvoll verzehrt hat, zwängt sich ein schleimiger Tentakel durch das Gitter eines Lüftungsschachts (zweiter Wendepunkt). An seiner Spitze sitzt ein menschliches Auge. Es sieht sich einige Zeit im Wohnmodul um. Plötzlich streckt sich eine mutierte menschliche Hand mit etwa 20 Fingern an einem mutierten menschlichen Arm aus dem Lüftungsschacht. Sie greift nach der Astronautin, zerfetzt ihre Kleidung, bricht ihren Brustkorb auf, reißt ihr das Herz heraus und verschwindet damit im Lüftungsschacht. Man hört das Geschöpf gierig schlingen.
Astronaut 1 und Astronaut 2, gleichzeitig, routiniert: »Sybille, gib Ruhe.« Licht aus.
Gezogene Zettel: Mond. Zahnbürste. »Sie ist seit Monaten verschwunden.« Eingenommener Betrag: 30,00 Schilling.
Nach dem Studium war Kuhn fünfundzwanzig Jahre lang Schauspieler an verschiedenen deutschsprachigen Theatern. Er fühlte sich wie ein Fisch im Wasser. Dann wurde er Romanautor. Er brauchte das Geld.