In den frühen Morgenstunden des 8. Juli 1980 schreibt der amerikanische Schriftsteller Raymond Carver in einem verzweifelten Brief an seinen Lektor Gordon Lish: »Ich will dir die Wahrheit sagen: Meine geistige Gesundheit steht auf dem Spiel.« Lish hat Carver das überarbeitete Manuskript für einen Band mit Erzählungen zurückgeschickt, der unter dem Titel What We Talk About When We Talk About Love erscheinen soll, und dabei einige der Erzählungen um fast zwei Drittel gekürzt. Nun befürchtet Carver, keine Freude über das Buch empfinden zu können, er meint, zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben, vom Weg abgekommen zu sein und womöglich nie wieder schreiben zu können. Carver ist seit einem Jahr trocken, es geht tatsächlich um sein Leben. Er glaubt sterben zu müssen, wenn die Geschichten mit den Eingriffen Lishs herauskommen, und bittet seinen Lektor, vom Vertrag zurücktreten zu dürfen. »Gordon, ich flehe dich an.« – Weniger dramatisch war es im Falle des Romans Johanns Bruder von Stephan Lohse. Dennoch veröffentlichen wir hier einen vom Lektor gestrichenen Absatz aus dem Roman-Manuskript.
52°30′13″ N, 13°21′3″ O
Am 19. Oktober 1872 wird Clara Friedländer in Bad Polzin (Połczyn-Zdrój) in der Pommerschen Schweiz geboren. Ihr Mädchenname ist Stein. Sie heiratet in Berlin und lebt bis zu ihrer Deportation in der Schillstraße 15 in Tiergarten. Am 23. Juli 1942 wird sie von der Gestapo abgeholt und gemeinsam mit weiteren 69 Frauen und 30 Männern zur Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße transportiert. Sie ist angewiesen worden, ihre Wohnung sauber zu übergeben und lediglich einen Satz zusätzlicher Kleider, Schuhe, Bettzeug, Essbesteck und Verpflegung für acht Tage mitzunehmen. Gegen 6.00 Uhr morgens geht der Transport fahrplanmäßig vom Anhalter Bahnhof ab. Clara befindet sich in einem der zwei Waggons der Dritten Klasse, die zusätzlich an den Zug angehängt worden sind. Einen Tag später erreicht der Transport als der achtundzwanzigste von insgesamt 123 sogenannten Alterstransporten mit überwiegend älteren Juden aus Berlin sein Ziel – Theresienstadt. Clara ist zu diesem Zeitpunkt 69 Jahre alt.
Im Verlauf des Sommers 1942 treffen zahlreiche weitere Transporte aus dem Reich in Theresienstadt ein. Die Folge der Überbelegung sind Hunger und Krankheit. Die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Prag beschließt daher, Massendeportationen ins Generalgouvernement eines Großteils der älteren Juden durchzuführen, die kürzlich eingetroffen sind. Clara ist eine von ihnen. Am 26. September verlässt ein Transport mit der Bezeichnung »Br« Theresienstadt und erreicht das Vernichtungslager Treblinka am 28. oder 29. September. In den Zügen befinden sich 2004 Häftlinge, ausschließlich Juden, 584 von ihnen kommen aus Berlin. Sie werden ohne Ausnahme im Rahmen der sogenannten »Aktion Reinhard« ermordet.
Damals befindet sich in der Schillstraße 11 das Geschäft für Elektrotechnik von Erich Goldschmidt, in der Schillstraße 3 die Buchhandlung Arthur Schlesingers und in der Schillstraße 1 das Geschäft für Metallwaren Walter Simon & Co. Heute befindet sich in der Schillstraße 9 die Bundesgeschäftsstelle der »Alternative für Deutschland«.