In den frühen Morgenstunden des 8. Juli 1980 schreibt der amerikanische Schriftsteller Raymond Carver in einem verzweifelten Brief an seinen Lektor Gordon Lish: »Ich will dir die Wahrheit sagen: Meine geistige Gesundheit steht auf dem Spiel.« Lish hat Carver das überarbeitete Manuskript für einen Band mit Erzählungen zurückgeschickt, der unter dem Titel What We Talk About When We Talk About Love erscheinen soll, und dabei einige der Erzählungen um fast zwei Drittel gekürzt. Nun befürchtet Carver, keine Freude über das Buch empfinden zu können, er meint, zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben, vom Weg abgekommen zu sein und womöglich nie wieder schreiben zu können. Carver ist seit einem Jahr trocken, es geht tatsächlich um sein Leben. Er glaubt sterben zu müssen, wenn die Geschichten mit den Eingriffen Lishs herauskommen, und bittet seinen Lektor, vom Vertrag zurücktreten zu dürfen. »Gordon, ich flehe dich an.« – Weniger dramatisch war es im Falle des Romans Johanns Bruder von Stephan Lohse. Dennoch veröffentlichen wir hier einen vom Lektor gestrichenen Absatz aus dem Roman-Manuskript.
52°45′43″ N, 9°54′22″ O
– 1944 rekrutiert die SS nicht mehr in der Junkerschule, sondern im Arbeitsamt Kieler Straße. Im KL-Außenlager Tiefstack verliebt sich die zuvor arbeitslose Straßenbahnschaffnerin Anneliese K. in Lotte W., eine jüdische Häftlingsfrau aus ihrem Arbeitskommando. Anfang April 1945 werden die Häftlinge des Außenlagers Tiefstack nach Bergen-Belsen gebracht. K. verschafft sich dort Zugang und lebt einige Tage als Häftling verkleidet mit W. in einer Baracke im Großen Frauenlager. Zwei Tage nach der Befreiung wird sie denunziert und festgenommen. Sie ist auf mehreren Fotos George Rodgers aus Bergen-Belsen zu erkennen. Sie schleppt Leichen vom Lastwagen in die Massengräber. Sie wird von den Häftlingsfrauen »Bubi« genannt. Wegen ihrer Frisur und ihres kernigen Auftretens.