Aaron ist neun. Er hat 800 Menschen gegessen. Er hat Flugzeuge und Autos verunglücken lassen. Er hat seine Schwestern lebendig begraben. Die Meerjungfrau hat ihm bei allem geholfen. Dann hat er sie getötet. Manchmal reist er auf einem Besenstil, manchmal auf der Schale einer Avocado. Aaron ist einer der Anführer von 30 000 Shégués, den Straßenkindern Kinshasas, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Vielleicht sind es auch 40 000, vielleicht 50 000. »Shégué« kommt von »Che Guevara«. Der war einst im Kongo, um die Revolution zu revolutionieren. Es hat nicht funktioniert. Vielleicht kommt »Shégué« aber auch von »Schengen«, was Freiheit bedeutet. Auf der Straße bekommt Aaron alles: Marihuana, Alkohol, was zum Schnüffeln, Valium, Heroin. Er lässt sich dafür von Männern vergewaltigen. Er hat sich daran gewöhnt. Seine Familie glaubte, er habe den Vater verführen und ihm die Hoden abbeißen wollen. Bereits als Aaron geboren wurde, hatte er die Gestalt eines Zitteraals. Er musste gehen. Er musste sich durchschlagen lernen.
»Se débrouiller« – sich durchschlagen, sich zu helfen wissen, das tun sie in Kinshasa, besonders die Frauen, die die Stadt wieder zum Dorf machen, zur Subsistenzwirtschaft und den traditionellen Formen ländlichen Lebens zurückkehren, die jeden freien Quadratmeter bepflanzen, sogar die Mittelstreifen der Sandwege, mit Maniok und mit Kraut. Doch selbst hartnäckigster Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse bricht zusammen, wenn das jährliche Durchschnittseinkommen unter 500 Dollar liegt, wenn die Hälfte der Kinder unterernährt ist, wenn es keine Mittelklasse gibt, wenn es Millionen HIV-positiver Menschen gibt und sich keiner von denen einen Arzt leisten kann. Ein erbarmungsloser Krieg, dem bereits Unzählige zum Opfer gefallen sind, treibt die Überlebenden in die Slums der Hauptstadt, mit geschätzt zehn Millionen Einwohnern Afrikas drittgrößte Metropole. Hier erwartet sie nichts als Armut.
»Die Kapazitäten kongolesischer Familien und Communities, die Grundversorgung und den Schutz ihrer Kinder zu gewährleisten, sind offenbar erschöpft«, sagt Mahimbo Mdoe, ein Mitarbeiter von »Save the Children«. Auf den Familien laste der entsetzliche Druck, die Schwächsten aufzugeben. Einmal verstoßen, werden die Kinder zu Opfern physischer, sexueller und emotionaler Misshandlung.
Aaron verbringt die Nächte auf den Friedhöfen der Stadt, in den Parks, auf den Bänken der Märkte oder im Bahnhof, der ein Blechdach hat. Er ist ein Anführer. Sie alle sprechen eine eigene Sprache. Sie sind Ausgesetzte, Kriegsflüchtlinge, ehemalige Kindersoldaten, Aids-Waisen. Sie respektieren einander, nur manchmal beklauen sie sich. »Es ist wie in der Armee«, sagt Aaron. Und Armee ist gut. Sie sind Ndoki, Hexenmeister, eine Armee der Hexenmeister. Sie sind frei.
Der Philosoph Valentin Yves Mudimbe zählt den Hexenglauben, den »esprit sorcier«, zu den größten Entwicklungshemmnissen des Kontinents. Mudimbe ist Kongolese, er weiß, wovon er spricht. In dieser Welt der Irrationalität wird Aids seit jeher von Hexen verbreitet und durch den Verkehr mit Jungfrauen geheilt, es regnet Zombies, und jedermann sucht Heil in Weissagungskulten, um Erlösung von der »Krankheit der Weißen« zu erlangen: von »yimbeefu kya mboongu«, der Krankheit des Geldes.
Doch der Glaube an verhexte Kinder ist relativ neu. Seit den späten Achtzigerjahren entstanden in leer stehenden Fabrikgebäuden und geplünderten Geschäften mit amerikanischem Geld zahllose fundamentalistisch-evangelikale Pfingstgemeinden. Hier schüren sie die Ängste vor den verhexten Kindern zur eigenen Rechtfertigung, denn einzig der Glaube der »Wiedergeborenen« lenke die göttlichen Waffen siegreich gegen die Hexerei und vernichte das Böse im Kampf gegen den Teufel. Bluttriefende Comics, Wandbilder, Werbeschilder und Videos von unvorstellbarer Grausamkeit zeigen Exorzismen an Kindern, die, halluzinatorisch die Vorwürfe gegen sie bestätigend, bekennen, sich der Hexerei schuldig gemacht zu haben. Sie werden qualvollen Prozeduren unterzogen, werden gezwungen, den Teufel zu erbrechen, sie müssen tagelang hungern, und ihre Hände werden mit kochendem Wasser verbrüht. »Combat Spirituel« ist eine der mächtigsten Pfingstkirchen Kinshasas. Präsident Kabila zählt zu ihren Anhängern.
Der Glaube an die Hexerei von Kindern ist ein Krisensymptom. Der britische Sektenexperte Richard Hoskins betont, dass dieser Glaube nichts mit der traditionellen afrikanischen Religion zu tun habe. Sie kenne keine Hexenkinder. Dieser Glaube sei erst mit dem Erscheinen der Harry-Potter-Romane von J. K. Rowling aufgekommen.
Nachts fliegen sie in Schwärmen auf Besenstielen durch den Slum von Ndjili. Sie schlachten ab, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie sind eine Armee. Sie haben das Recht zu töten. Sie sind mächtig. Aaron führt sie an.
Der Autor hat sich folgender Quellen bedient:
– Mike Davis: Die kleinen Hexen von Kinshasa, Le Monde diplomatique 2006
– Bartholomäus Grill: Die Macht der Hexen, DIE ZEIT 2005
– Dominic Johnson: In einem armen Land die ärmsten Teufel, taz. die tageszeitung 2006
– Danilo De Marco: Wir sind doch nicht Harry Potter!, 30Giorni 2003