Meine Mutter hatte eingesehen, dass Ingo Melcher absolut ungeeignet war, um mich mit ihm anzufreunden. Sie hatte ihn auf der Straße angesprochen, ob er vielleicht Lust habe, sich mal mit mir zu verabreden. Er hatte geantwortet, dass er nur selten zu etwas Lust habe, abgesehen vom Tag der offenen Tür in der Heinrich-von-Vietinghoff-Kaserne. Ein paar Tage danach meldete mich meine Mutter bei den evangelischen Pfadfindern an, ohne mein Wissen, und obwohl wir katholisch waren, worauf ich eigentlich ein bisschen stolz war. Katholiken kamen bei uns nicht so häufig vor. Sie schienen die wahreren Christen zu sein. Ich weiß nicht, warum sich meine Mutter für die evangelischen Pfadfinder entschieden hatte, vielleicht, weil sie am Telefon nett gewesen waren, vielleicht, weil es in der Nähe keine anderen gab, vielleicht, weil ich es als Katholik bisher nicht weit gebracht hatte. Das Knien in der Kirche hasste ich, weil ich nicht verstand, warum ausgerechnet der Schmerz meinen Glauben stärken sollte, vor der Kommunion betete ich versehentlich: »Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter meinem Dach.« Ich meinte damit, dass Jesus möglicherweise auch bei uns zu Hause sterben könnte, und nach der Kommunion habe ich ab und zu die Hostie, statt sie zu essen, eingesteckt und später in den Toaster gehalten, ich wollte herausfinden, ob sie irgendwann nach gebratenem Fleisch riechen würde. Bei einer Partie Hockey auf dem Kirchenvorplatz ist dann auch noch meine Taufkerze zerbrochen. Die bereits ausgefüllte Anmeldung zum Messdienerunterricht landete im Müll. Meine Chance auf katholische Freunde war vertan.
Das Problem bei den Pfadfindern ist, dass man zunächst einmal keiner ist. Man ist Wölfling und muss sich in der Meute bewähren. Dafür muss man »Allzeit bereit« sein und seinen Chef »Baghira« nennen. Man braucht eine Kluft und muss an zwei oder drei Fahrten teilnehmen, um sich das Halstuch, das Einzige, wofür die Kluft sich lohnt, zu verdienen. Mir hatte die erste Fahrt aber bereits gelangt. Wir waren mit Bussen auf einen von Dauerregen durchweichten Platz in der Nähe von Ratzeburg gekarrt worden. Dort sollten wir uns friedlich mit Pfadfindern aus Frankreich zusammentun.
Die Kothen, unsere schwarzen Pfadfinderzelte, waren verraucht, wenn wir das Feuer, das man in der Mitte machte, endlich anbekommen hatten. Die Spaghetti, über dem qualmenden Feuer gekocht, verklebten zu Klumpen und mussten in Ketchup eingeweicht werden, und unsere Schlafsäcke waren klamm und rochen nach feuchtem Fell. Für all das machten wir die französischen Pfadfinder verantwortlich, les Scouts, die uns mit ihrer albernen Sprache ständig ablenkten. Die Franzosen machten uns ihrerseits für den Wind verantwortlich, der auf ihrer Seite des Platzes angeblich stärker blies als auf unserer, weshalb ihre Kothen mit Steinen vom Ufer des Ratzeburger Sees beschwert werden mussten. Statt gemeinsam Gutes zu tun, wofür wir eigentlich bei den Pfadfindern waren, traten wir in Wettkämpfen gegeneinander an, jeweils für unsere Heimatländer, deren Fahnen auf unsere Hemden genäht waren.
Im französischen Verband waren, wie in unserem, Mädchen zugelassen, trotzdem war bei denen nur ein einziges mitgekommen. Sabine. Einige unserer Gruppenleiter sprachen das »E« am Ende mit, was mir unglaublich peinlich war. Kein Wunder, dass die Franzosen gegen uns Deutsche Krieg geführt hatten. Sabine hatte einen schiefen Pony. Das gefiel mir total. Sie war etwa so groß wie ich, schien aber stärker zu sein. Einen Baumstamm, an dem wir Nägel gerade ins Holz hämmern üben sollten, trug sie allein über den Platz und sah dabei so wütend aus, dass niemand, der nicht zufällig Probleme bekommen wollte, den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Vielleicht war sie so schlecht gelaunt, weil sie als einziges Mädchen hinter einem aufgespannten Poncho in der Gruppenleiterkothe schlafen musste. Ich überlegte ein paar Tage, wie ich Kontakt zu ihr aufnehmen könnte, ohne wahrscheinlich eine geknallt zu bekommen, dann bot sich plötzlich eine Gelegenheit. Während die anderen im Tauziehen gegeneinander antraten, Deutschland gegen Frankreich, Gut gegen Böse, und sich im Schlamm suhlten, stand Sabine abseits und zog Gesichter, aber eher für sich. Um nicht von ihr übersehen zu werden, ging ich besonders langsam und in einer großen Kurve zum Ufer des Sees. Ich hatte mir von einem Gruppenleiter Nadel und Faden geliehen, um für einen anderen Wölfling, wie ich pfadfinderhaft behauptete, einen losen Knopf anzunähen. Die Nadel schmiedete ich zu einem Haken, den Faden knotete ich an eine Weidenrute. Auf den Haken habe ich einen Regenwurm gespießt, durch die Verdickung an seinem Körper, weil ich dort sein Herz vermutete und ihm unnötiges Leid ersparen wollte. Sabine kam mir tatsächlich nach. Sie stellte sich etwa zehn Meter von mir entfernt ans Ufer und sah Richtung Ostblock, ohne wahrscheinlich zu wissen, dass dort der Ostblock lag. »Je veux pêcher«, sagte ich nach einer Weile. Das französische Wort für »angeln« hatte ich extra bei einem der französischen Gruppenleiter erfragt. Ich warf den Regenwurm in den See und stocherte mit der Weidenrute hinterher. Sabine schwang ihre Arme durch die Luft, um anzudeuten, wie man eine Angel auswarf, ich machte es ihr nach, wir lächelten ein bisschen, genossen den Ausblick auf den Ostblock, nickten, lächelten noch einmal, und ich ließ die Angel zucken. Als ewig kein Fisch anbiss, schlug Sabine vor, es näher an der Uferböschung zu versuchen, vielleicht würde dort ein Frosch anbeißen. Und das alles ohne Worte, nur mit Gesten und Geräusch! Frösche bissen zwar keine an, aber wir knutschten schön im Gebüsch. Nein. Das stimmt leider nicht. Wir redeten nur drauflos, ohne ein einziges Wort zu verstehen, und gingen schließlich zurück zu den verdreckten Tauziehern. Am Abend kannte mich Sabine nicht mehr.
Die Franzosen hatten einen Schnitzkurs organisiert. Dafür brauchte man ein Fahrtenmesser. Natürlich hatte meine Mutter versäumt, mir eins zu besorgen. Während die anderen freudeschönergötterfunken am Lagerfeuer saßen und Muster in ihre Stöckchen ritzten, musste ich am See den Ruß von den Spaghettitöpfen schrubben. Die Töpfe waren ein Geschenk von der Bundeswehr. Ingo Melcher hätte das wahrscheinlich gefallen.
Zwei Tage später fand im Ratzeburger Dom ein Abschlussgottesdienst statt. Der Pfarrer spielte ein Lied auf Platte, das davon handelte, dass die Kinder von Paris und Göttingen »les mêmes« waren. Warum von Göttingen? Warum nicht von Mölln? Warum nicht von Ratzeburg? Es wurde viel von Völkerverständigung gesprochen. Die deutschen Baghiras lasen die Fürbitten auf Französisch, die französischen lasen sie auf Deutsch, und am nächsten Tag war die Pfadfinderfahrt vorbei. Wir brachen zuerst auf, obwohl les Scouts den längeren Weg hatten. Sie winkten lange. Da waren Freundschaften fürs Leben entstanden. Nur ich hatte außer Sabine niemanden kennengelernt.
Zu Hause wurde ich Atheist und durfte mich bei den Pfadfindern abmelden. Ich sollte mir aber ein paar andere Freunde suchen, zum Beispiel vorne in der Siedlung, dort gäbe es eine Bande, die die Gegend unsicher mache, das sei doch bestimmt ganz lustig. Aha. Im Endstück eines Reihenhauses wohnte Sybille Brachvogel mit ihrer Familie, plus fünf Fischen in einem Süßwasseraquarium und dem Hamster Wolfgang Amadeus. Der Hamster fiepte im Schlaf, weshalb Sybilles Mutter ironischerweise annahm, dass er in einem vorigen Leben Komponist gewesen war. Sybilles Vater arbeitete in der Teilchenbeschleunigung.
Wenn es nicht regnete, spielten wir im Naturdenkmal. Das war ein besonders geschütztes Naturschutzgebiet, das man auf keinen Fall betreten durfte, hoch umzäunt und durch Stacheldraht gesichert. Wir kannten aber ein Loch. Das Gelände wies alles auf, was die Natur zu bieten hatte. Auf kleinstem Raum gab es einen Hügel, einen Bach, einen See, einen Wald, einen Sumpf und so etwas wie eine Steppe. Am See verfiel eine Fischerhütte. Geangelt haben wir dort aber nie, obwohl ich es dank Sabine inzwischen ganz gut konnte. Meistens lasen wir Spuren. Abgefallene Blätter, Stöckchen, die unerwartet quer auf dem Weg lagen, Bissspuren im Gebüsch, Kratzspuren auf dem Boden. Für gewöhnlich führten sie uns zum Sumpf, und wir stellten uns vor, dass unsere Feinde dort eingesunken waren und zu Moorleichen verkästen. Einmal nahmen wir Sybilles Apachenzelt ins Denkmal mit. Auf dem Teil der Steppe, den man von außen nicht einsehen konnte, bauten wir es nach Anleitung auf.
»Diese Kothe nennt man Tipi«, sagte ich und Sybille sagte, dass das egal sei und fragte, ob ich sie heiraten wolle. Ich bekam Angst. Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass das in einem Apachenzelt nackt geschehen müsse. »Und wie?«, fragte ich.
»Ohne zu lachen«, sagte Sybille. Sie war einen halben Kopf größer als ich und übernahm die Führung. Wie sich herausstellte, fand die Zeremonie bekleidet statt, allerdings musste am Ende geküsst werden, mit offenem Mund und Zunge. Da wir beide Atheisten waren, stellten wir uns während der Trauung keinen Priester vor, sondern einen Standesbeamten. Sybille zählte in seinem Namen eine lange Liste dessen auf, was in der Ehe zu beachten sei. Es klang furchtbar. Der Kuss danach schmeckte schal nach Spucke.
Wenn es regnete, waren wir meistens bei Sybille zu Hause. Wir weckten Wolfgang Amadeus und ärgerten ihn, bis er fiepte, oder naschten den Fischen die Futter-flocken weg.
»Haben die eigentlich auch Namen?«
»Ja. Elisabeth, Antoinette, Ludovika, Anastasia und Victoria.«
»Wahnsinn. Alles Weibchen.«
»Ja. Obwohl man das bei denen nicht so genau sieht.«
Am liebsten spielten wir mit Puppen. Sybille besaß ein großes Puppenhaus. Es hatte sechs Zimmer, eine Küche, ein Bad, ein Treppenhaus und einen angedeuteten Kohlenkeller. Die Zimmer der Erwachsenen waren gediegen möbliert, die der Kinder jugendlich modern. Das Beste aber war das elektrische Licht. In jedem Zimmer brannte eine Lampe. Da wir ohnehin verheiratet waren, durfte ich mit dem Vater Herrn Klüver spielen und das Licht an- und ausschalten, Sybille spielte mit Frau Klüver, sie bügelte den ganzen Tag und erzog die Kinder, Bettina und Jan. Mittwochs wurden die Kohlen geliefert. Eines Tages fiel die Beleuchtung aus. Sybille holte ihren Vater, Dr. Brachvogel, damit er sie reparierte, immerhin war er Teilchenbeschleuniger. Er folgte dem Verlauf der Kabel mit einem kleinen Schraubenzieher, bückte sich, schraubte ein wenig, atmete schwer, schimpfte über eine Lüsterklemme und behob schließlich den Schaden. Als Sybille sagte, dem Ingenieur sei nichts zu schwör, wurde mir bewusst, dass ich sie niemals würde lieben können.
Unser Klassenlehrer hatte Rotation angeordnet und eines Tages saß ich neben Benny. Er war top in Physik, top in Sport, Klassensprecher und wunderschön. Ständig haben die Mädchen ihm Briefchen geschrieben, und ich wurde zu seinem Sekretär. Den meisten fehlte der Mut, Benny die Briefchen selbst zu übergeben. Ich nahm sie entgegen, legte sie ihm vor und nannte dabei die Absenderin.
»Nadja, Iris, Antje, Kerstin und Svenja.«
Benny faltete die Briefchen auseinander, überflog sie, faltete sie wieder zusammen und stopfte sie ins Fach unter unserem Tisch.
»Und was steht drin?«, fragte ich.
»Das Übliche«, sagte er. Ich fand ihn toll.
Da meistens Benny und sein Feind Oliver Steffen für den Pausenfußball die Mannschaften auswählten, kam ich jetzt öfter dran und lernte, dass man als Verteidiger eigentlich kein Fußball können musste, es reichte aus, sich dem Gegner mit angewinkelten Ellenbogen in den Weg zu stellen. Schmerzen machten mir nichts, ich war katholisch, und bald hatte ich den Ruf, ein arroganter Knochenbrecher zu sein. Nach der Schule gingen Benny und ich nun gemeinsam nach Hause. Wir mussten durch ein Waldstück, dann über eine große Wiese und entlang des Flusses zum Bus. Auf der Wiese befanden sich zwei Stationen eines Trimm-dich-Pfads. Oft hängten wir uns an die Klimmzugstangen oder hockten uns auf die im Boden versenkten Bahnschwellen, die für Gleichgewichtsübungen vorgesehen waren. Bennys Vater war Optiker, seine Mutter unterrichtete Französisch in der Volkshochschule. Seine Schwester arbeitete in einem Autoverleih. Sie wohnten in einem schönen Haus und hatten auf der Terrasse eine Tischtennisplatte stehen. In den Sommerferien fuhren sie an die französische Atlantikküste, im Winter zum Skifahren nach Südtirol. Es war ein Leben wie man es sich wünscht, und trotzdem saß Benny eines Tages auf einer der Bahnschwellen und fing an zu weinen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich machte nichts, wartete nur ab, ob irgendetwas geschehen würde, sah über die Wiese, wenn er über die Wiese sah, seufzte, wenn er seufzte, und schüttelte zwischendurch den Kopf. Irgendwann sagte Benny, dass er keine Ahnung habe, was los sei, dass es überhaupt keinen Grund gäbe, traurig zu sein, dass er einfach nur nicht nach Hause wolle, obwohl dort alles normal sei, seine Eltern, das Haus, der Garten, nur die Luft sei irgendwie anders, fester, undurchdringlicher, wie ein schweres Gas, in dem er nicht atmen könne. Er fragte, ob ich ihn begleiten würde, und ich lieh mir etwas Geld, damit ich zu Hause anrufen konnte.
Bennys Mutter war nett, sie wirkte allerdings sehr beschäftigt. Weil sie einen Fortgeschrittenenkurs vorzubereiten hatte, machte sie uns nur eine Dose Ravioli warm. Wenn uns das zu lasch sein sollte, könnten wir etwas Ketchup untermischen. Ich finde Dosenravioli schon ohne Ketchup sehr lecker. Aber mit? Nach dem Mittagessen spielten wir auf der Terrasse Tischtennis. Benny konnte die Bälle so schießen, dass sie einem, wenn man sie annahm, vom Schläger sprangen. Ich lag in der fünften Partie 9 zu 3 zurück, als ich hinter mir eine Stimme hörte: »Schneide ihn mehr aus dem Handgelenk.« Bennys Vater stand, von uns übersehen, in der Terrassentür und beobachtete unser Spiel. Bennys Augen wurden schmal, er stellte sich nah an die Platte, ging in die Knie, hielt den Schläger wie eine Pfanne und schlug den Ball so schnell, dass er unsichtbar wurde. Ich machte nichts. Bevor ich meinen Schläger heben konnte, war bereits alles vorbei. Ich sah zu Bennys Vater hinüber. Sein Gesicht war leer wie Luft. Er nickte, ein leichtes Zucken, dann ging er zurück ins Haus. Benny wollte nicht weitermachen, und wir werteten die Partie als unentschieden. Die anderen vier hatte ich verloren.
»Warum trägt dein Vater keine Brille?«
»Er hat über 100 Prozent Sehkraft.«
»Und trotzdem ist er Optiker?«
»Es gibt ja auch Friseure mit Glatze.«
»Und jetzt? Ist sein Geschäft zu?«
»Er macht Mittagspause.«
»Jeden Tag?«
»Ja. Er legt sich hier aufs Sofa.«
»Aber später geht er dann wieder ins Geschäft?«
»Ja. Bis sieben.«
»Und dann?«
»Dann kommt er zurück. Das merkt man aber oft gar nicht.«
Wir zogen unsere Schuhe aus und gingen auf Zehenspitzen durchs Haus. In Bennys Zimmer unterm Dach durfte man, wenn die Tür geschlossen war, wieder etwas lauter sein. Benny besaß einen Plattenspieler mit eingebauter Box. Er zog ihn unterm Bett hervor, stellte ihn auf den Schreibtisch und legte eine Platte auf.
»Die ist von meiner Mutter. Barbara. So heißt die Sängerin.«
Benny spielte dasselbe Lied, das der Pfarrer im Ratzeburger Dom gespielt hatte. Beim zweiten Mal übersetzte er es mir. Ich wusste noch, dass es davon handelte, dass die Kinder von Paris und Göttingen sich glichen. Außerdem handelte es von der Seine, den Königen von Frankreich, von Märchen, die mit »Es war einmal« beginnen, vom Krieg, von der Melancholie und davon, dass ein Herz unter Umständen Tränen vergießen kann.
Als das Lied ein drittes Mal lief, fragte ich Benny, ob er jemals bei den Pfadfindern gewesen sei. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin katholisch.«
»Und was genau bedeutet Melancholie?«
»Ich glaube, dass man keine Freunde hat«, sagte Benny.