1958
Am Abend des 17. April, einem Donnerstag, entschloss sich Baudouin I., König der Belgier, während des Grand Bal de la Cour zu einem langsamen Walzer. Stunden zuvor hatte er auf dem Heysel-Plateau unter dem Motto A World View: A New Humanism die Brüsseler Weltausstellung eröffnet. Auf einem Gelände in Form einer stilisierten Kuh, überragt vom 102 Meter hohen Atomium, einem milliardenfach vergrößerten Modell eines Eisenmoleküls in kristalliner Struktur, in dessen höchster Kugel sich ein Aussichtslokal mit internationaler Küche befand, beteiligten sich Aussteller aus 51 Nationen – Länder, supranationale Organisationen und Privatfirmen –, sämtlich dem vom König formulierten Anspruch verpflichtet, zur Erschaffung der Zivilisation einen moralischen Standpunkt zu beziehen, die Technik allein genüge hierfür nicht.
Oberhalb des vorderen Beinpaars der stilisierten Kuh befand sich die belgische Kolonial-Abteilung. Freundliche évolués, kongolesische Einheimische, die die Wohltaten ihrer belgischen Herren priesen, führten die Besucher durch die sieben Pavillons. In der »Abteilung Gesundheit« erhielt man Informationen über die Bemühungen, die Eingeborenen vor tropischen Plagen zu schützen, in der »Halle der Missionen« dokumentierte ein Standbild den Erfolg des Kampfes um ihre Seelen: Eine kongolesische Familie beim Lesen der Bibel. Im Garten zwischen den Pavillons war ein village indigène errichtet worden. Hinter einem Zaun wurde den Besuchern der Alltag eines kolonialen Dorfes vorgeführt. Hierzu hatte man 15 einheimische Darsteller verpflichtet, sie landestypisch kostümiert, mit allerlei Schmuck behängt und mit traditionellen Werkzeugen versorgt, sodass sie die Verrichtungen des natürlichen Dorflebens nachstellen konnten, scheinbar wenig begabt, aus der Einfalt dieses Lebens hervorzutreten und der Welt mit Sinn und Verstand zu begegnen – die Anweisung, sich selbst zu imitieren, stellte so das Missing Link her, wie es einst beim Pygmäen Ota Benga, genannt Otto Bingo, der Fall war, der im Bronx Zoo in New York City gemeinsam mit einem Orang-Utan im Käfig lebte und so seine genetische Nähe zum Menschenaffen demonstrierte. Nachdem mehrere Besucher der Weltausstellung versucht hatten, die Darsteller mit Erdnüssen zu füttern, rebellierten diese gegen ihre Zurschaustellung. Die Vorführung wurde abgebrochen und das Ensemble in die Heimat verschifft. Man fürchtete, dass es andernfalls zu Skandalen in den Brüsseler Bordellen kommen könnte.
1837
»Jenes eigentliche Afrika ist, so weit die Geschichte zurückgeht, für den Zusammenhang mit der übrigen Welt verschlossen geblieben; es ist das in sich gedrungene Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist. […] Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, daß ihr Bewusstsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei welcher der Mensch mit seinem Willen wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte. […] Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will; es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden. […] Die Wertlosigkeit der Menschen geht ins Unglaubliche; die Tyrannei gilt für kein Unrecht, und es ist als etwas ganz Verbreitetes und Erlaubtes betrachtet, Menschenfleisch zu essen. […] den Menschen zu verzehren hängt mit dem afrikanischen Prinzip überhaupt zusammen; für den sinnlichen Neger ist das Menschenfleisch nur Sinnliches, Fleisch überhaupt. […] Aus allen diesen verschiedentlich angeführten Zügen geht hervor, daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charakter der Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig […].«
Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. aus Notizen und Mitschriften 1837 postum herausgegeben von E. Gans
1928–1952
»Durch die Straße von Gibraltar allein fließen in jeder Sekunde 88 000 Kubikmeter Wasser! Die Natur leistet das seit vielen Jahrtausenden, ohne irgendwelche Ausnützungsversuche von Seiten des Menschen. Wer instinktiven, natürlichen Sinn für Ökonomie hat, muss diese Vorgänge und Zahlen in einer Zeit wirtschaftlichen Leerlaufs und politischer Phrasen als eine kategorische Aufforderung zur Tat empfinden.«
In einem Schwabinger Lokal ließ sich der Münchner Architekt Herman Sörgel ein frisches Bier bringen.
Jedermann wisse, fügte er hinzu, dass Europa und Afrika während der Eiszeit in einem Kontinent vereinigt gewesen seien. Das Mittelländische Meer, inmitten des Landes gelegen, habe sich vor mehr als fünf Millionen Jahren aus zwei Binnenseen zusammengesetzt, durch einen Landstreifen voneinander getrennt, worauf die Geografien Italiens und Tunesiens noch heute hindeuteten. Erst als der Atlantische Ozean in Folge der Eisschmelze durch die Straße von Gibraltar hereingebrochen war, habe sich das Mittelmeer in seiner heutigen Gestalt gebildet und ohne diesen stetigen Zufluss würde es verdunsten. Gelänge es, die hereinflutende Strömung aufzuhalten und in elektrische Energie umzuwandeln, wäre das Ergebnis ungeheuerlich. Ein Kraftwerk, in dem der Wasserdruck 150 Turbinen antriebe, würde eine Leistung von 67,7 Millionen Pferdestärken liefern, was sich im Verbund mit weiteren Kraftwerken eines zu erbauenden Großkraftnetzes auf eine Dauerleistung von 150 Millionen Pferdestärken steigern ließe, eine elektrische Internationale, die den Bedarf an Energie in Europa um ein Vielfaches decken könnte. Zugleich würde die Verdunstung den mediterranen Meeresspiegel um jährlich 80 Zentimeter sinken lassen. Innerhalb der nächsten 100 Jahre wäre eine tiefgreifende Umgestaltung des Mittelmeerraums die Folge. Durch die zurückweichende Küstenlinie könnte Neuland von einer Fläche größer als Frankreich gewonnen werden. Korsika und Sardinien würden zu einer Insel verschmelzen, die Adria wäre bis auf einen See ausgetrocknet und die Straße von Sizilien wäre tatsächlich eine Straße, die Europa und Afrika miteinander verbände. Es wäre nichts Geringeres als eine neue Schöpfung mit den Mitteln der Technik, ein neuer mächtiger Weltteil, der nicht mehr Gefahr liefe, zwischen AMERIKA (42 Millionen Quadratkilometer) und der gelben Gefahr eines rassenfeindlichen ASIENS (ebenfalls 42 Millionen Quadratkilometer) zermalmt zu werden. Der Name dieses neuen Weltteils: ATLANTROPA (41 Millionen Quadratkilometer). Man stelle sich einmal vor: Stockholm – Berlin – Rom – Tunis – Kapstadt, ohne auch nur einmal umzusteigen!
Der Applaus seiner Zuhörer ließ Herrmann Sörgel Zeit, sein Monokel zu reinigen.
Nicht umsonst habe man das Mittelmeer das »Meer des Schicksals« genannt, ein Schicksal, das im Zeitalter der Hydroenergie dem Ingenieur eine zielbewusste Gestaltung gestatte, nicht nur der Energiegewinnung, sondern auch der Landschaft, des Wohnraums, gar des Klimas. So sei eine Umverteilung des Wassers zugunsten der Saharazone und der dort geplanten landwirtschaftlichen Anbauflächen heute längst keine Sache des Könnens mehr, sondern lediglich eine des Wollens und leider auch des Müssens. Ein Gebiet von neun Millionen Quadratkilometern, fast dreißigmal so groß wie Deutschland, könnte den leidigen Menschenüberschuss Europas aufnehmen. Dieses Gebiet schreie förmlich nach Kolonisation. Der Wille zur Tat hätte einen Aufschwung von wirtschaftlichem Reichtum und kultureller Blüte zufolge, die sich heute gar nicht ausdenken ließen. »Ihr werdet sehen, das kommt.«
Herman Sörgel betrachtete Afrika als erwartungsvolles Vakuum vor den Toren Europas. Ihm schien eine Lebensraumerweiterung großen Formats dringend geboten, sollte ein Volk wie das deutsche sich entfalten und ein Erdteil wie Europa sich nicht selbst vernichten wollen. Europa müsse anbauen. Allerdings dürfte, wenn die Weißen auf Dauer Afrika beherrschen wollten, die Überzahl der Schwarzen nicht zu groß werden. Durch den medizinischen Fortschritt rücke die Gesundung der Tropen in greifbare Nähe. Schon heute ließen sich die Wurm- und Schlafkrankheit, die Malaria und die ägyptische Augenkrankheit wirkungsvoll behandeln. Doch befreite man den Neger von diesen Übeln, würde sich die schwarze Rasse nachweislich drei- bis sechsmal so stark vermehren wie die weiße.
Anfang der 1940er-Jahre ermahnte Sörgel die Reichsleitung, die naturgegebene Bevölkerungsstärke der Germanen könne nur durch den Platz an der Sonne, nicht durch Eroberung asiatischer Steppen und Sümpfe, wesentlich gehoben werden. Ferner wies er auf die Gefahr rassischer Degeneration bei der Verwendung von Kunstdünger hin. Die Reichskanzlei ließ ausrichten, Großdeutschland werde nach erfolgtem Endsieg ohnehin zusätzlich zu den ursprünglichen Kolonien über einen »Kolonialen Ergänzungsraum« verfügen, der Teile der britischen Kolonie Goldküste, Nigerias und Französisch-Westafrikas umfassen und entlang der Landesgrenzen des Sudan bis an die Küste des Indischen Ozeans heranreichen werde und zwar unter Einschluss Rhodesiens, Belgisch-Kongos und Französisch Äquartorialafrikas. Die Planungen hierfür seien jedoch noch experimentell, der Führer sei gegenwärtig an einer Südlösung nicht interessiert.
Zur inneren Erschließung des Schwarzen Kontinents und der Nutzung seiner immensen Energie- und Rohstoffquellen beabsichtigte Sörgel, gleichsam als Vollendung seines ATLANTROPA-Projektes, das Kongobecken fluten zu lassen, ein Gebiet von annähernd einer Million Quadratkilometern, seiner Ansicht nach größtenteils aus Sümpfen und jungfräulichem Urwald bestehend, klimatisch dem weißen Manne unverträglich. Durch den Bau eines Dammes könnte das Wasser des Kongoflusses aufgestaut werden, ein Binnensee würde entstehen mit einer Küstenlänge von 6 000 Kilometern, an dessen Ufern gemäßigte Temperaturen vorherrschten, sodass einer dauerhaften Besiedelung durch die Europäer in großem Stil nichts entgegenstünde. Es sei geradezu die Pflicht der Europäer hier Gegenden zu vernichten, wo nur der Schwarze allein leben könne. Die Eingeborenen dieses tieferen Teils des Kongobeckens seien Pygmäen, primitive zwergwüchsige Völker, z. T. Menschenfresser.
Im Dezember 1952, mit dem Fahrrad unterwegs zu einem Vortrag, wurde Herman Sörgel auf der Münchner Prinzregentenstraße in einen Verkehrsunfall verwickelt, an dessen Folgen er noch in derselben Nacht verstarb. Der Unfallfahrer konnte nie ermittelt werden, Sörgels Monokel wurde einige Stunden später im Rinnstein gefunden, es war bis auf einen kleinen Kratzer unbeschädigt.
2017
Anfang August forderten die italienischen Behörden mehrere Hilfsorganisationen auf, die unter der Leitung der staatlichen Leitstelle in Rom (MRCC) auf dem Mittelmeer im Einsatz zur Seenotrettung überwiegend aus Libyen Geflüchteter waren, dem CODE OF CONDUCT FOR NGOs INVOLVED IN MIGRANTS’ RESCUE OPERATIONS AT SEA zuzustimmen, der die Organisationen u. a. dazu verpflichten sollte, Polizeikräfte an Bord zu lassen. Die Hilfsorganisationen ›Ärzte ohne Grenzen‹, ›Jugend hilft‹ und ›Sea-Watch‹ verweigerten diese Zustimmung. Es folgte in den Medien eine Diskussion über die Rechtmäßigkeit der NGO-Einsätze, ungeachtet des geltenden Völkergewohnheitsrechtes, dass jedem Schiff in jedem Bereich der See, welches ohne Unterstützung nicht in Sicherheit gelangen würde, zu Hilfe zu eilen sei. Dies wurde von Leserinnen und Lesern auf ZEIT ONLINE wie folgt kommentiert:
»Wie sollen Voodoo-Gläubige, die erkennbar noch in voraufklärerischem Denken gefangen sind, jemals Fuß fassen in unserer rationalen Hochtechnologie-Gesellschaft?« »Die Unterschiede in der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklung sind einfach zu groß.« Dennoch werden »die Leute versuchen zu kommen, zu groß die Verlockung, zu groß die Chancen es zu schaffen, zu groß die Frustration arbeits- und perspektivloser junger Männer.« Denn »es sind zu 80 Prozent diese jungen Männer, die kommen. Aber was wird in deutschen Medien primär gezeigt? Bilder von Frauen und Kindern mit Kulleraugen, um beim Leser Empathie für die einen invasiven Charakter aufweisende Masseneinwanderung zu generieren.« »Ich möchte noch darauf hinweisen, dass selbst wenn Europa sich aufgäbe und zu einem Teil Afrikas würde, wäre das Problem nicht gelöst, sondern nur um ein oder zwei Jahrzehnte verschoben.« Dabei »hat Afrika im Zuge der Christianisierung, Schaffung von Staatsgebilden, Bekämpfung des Kannibalismus, Einführung eines Schulwesens, Straßenbau und Import von Technologien auch profitiert. Ich möchte Sie daran erinnern, dass es in Afrika Regionen gegeben hat, in denen selbst gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht mal das Rad erfunden war.« »Viel zu lange wurde das Thema moralisiert, um von einer sachlichen Diskussion abzulenken.« »Ein Problem anfüttern ist nun mal nicht helfen, auch wenn es sich erstmal gut anfühlt.«
2035
Die Erste, die der Überflutung ihres Dorfes durch die Stauung des Kongo zum Opfer fiel, war Izelte Kitenge. Beim Versuch, ihre Kinder Nyota und Fridolin zu retten, kam kurz darauf Izeltes Freundin Vivienne Tubabale ums Leben. Die Fischer Raphaël Mbuyi, Laurent Boketshu, Julien Azanga und Lionel Kitenge starben, als sie versuchten, ihre Boote an einem Baum zu vertäuen. Sie wurden von den Wassermassen mitgerissen.
1960
Bereits am Vortag war es zu einem peinlichen Zwischenfall gekommen. Baudouin I., soeben in Léopoldville, der Hauptstadt des Kongo eingetroffen, war, während er aus einer offenen Limousine einer Abteilung der Force Publique salutierte, seines Degens beraubt worden. Ein feu-follet hatte ihm die Waffe entrissen. Entsprechend verstimmt trat der König nun, am 30. Juni, wiederum einem Donnerstag, ans Rednerpult in der ehemaligen Residenz des Generalgouverneurs, die fortan einem unabhängigen Kongo als Parlamentsgebäude dienen sollte. Dominer pour servir, beherrschen, um zu dienen, war stets der Grundsatz der belgischen Krone gewesen und so teilte der König den indigènes und angereisten Gästen mit, die Unabhängigkeit des Kongo stelle den Höhepunkt des Werkes dar, welches vom Genie König Leopolds II. entworfen, von ihm mit zähem Mut umgesetzt und schließlich von Belgien mit Ausdauer fortgesetzt worden sei. »Es ist nun an Ihnen, meine Herren, zu beweisen, dass wir recht daran taten, Ihnen zu vertrauen.«
Patrice Lumumba, frisch gewählter Premierminister und ein sale nègre erwiderte: »Wir wurden verhöhnt und beleidigt, wir mussten morgens, mittags und abends Schläge ertragen, weil wir Neger waren. […] Wir mussten erleben, dass man unser Land raubte aufgrund von Texten, die sich Gesetze nannten, in Wirklichkeit aber nur das Recht des Stärkeren besiegelten. […] Wir mussten erleben, dass es in den Städten herrliche Häuser für die Weißen gab und baufällige Hütten für die Schwarzen, dass Schwarze weder in die Kinos noch in die Restaurants und Geschäfte der Europäer durften; dass Schwarze auf Schiffen unter Deck reisten, zu Füßen der Weißen in ihren Luxuskabinen. […] All dies, meine Brüder, haben wir erlitten.«
Solch impertinente Anklage hatte der König nicht erwartet. Sein Zorn war grenzenlos.