In den frühen Morgenstunden des 8. Juli 1980 schreibt der amerikanische Schriftsteller Raymond Carver in einem verzweifelten Brief an seinen Lektor Gordon Lish: »Ich will dir die Wahrheit sagen: Meine geistige Gesundheit steht auf dem Spiel.« Lish hat Carver das überarbeitete Manuskript für einen Band mit Erzählungen zurückgeschickt, der unter dem Titel What We Talk About When We Talk About Love erscheinen soll, und dabei einige der Erzählungen um fast zwei Drittel gekürzt. Nun befürchtet Carver, keine Freude über das Buch empfinden zu können, er meint, zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben, vom Weg abgekommen zu sein und womöglich nie wieder schreiben zu können. Carver ist seit einem Jahr trocken, es geht tatsächlich um sein Leben. Er glaubt sterben zu müssen, wenn die Geschichten mit den Eingriffen Lishs herauskommen, und bittet seinen Lektor, vom Vertrag zurücktreten zu dürfen. »Gordon, ich flehe dich an.« – Weniger dramatisch war es im Falle des Romans Johanns Bruder von Stephan Lohse. Dennoch veröffentlichen wir hier einen vom Lektor gestrichenen Absatz aus dem Roman-Manuskript.
34°7′59″ N, 118°7′28″ W
Luke Fullers Stupsnase schien noch in der Pubertät zu sein, sonst war er aber schon sehr hübsch.
Er hatte pechschwarze Haare, haselnussbraune Augen und sanfte Lippen. Seit er als Executive Assistant in der PR-Abteilung von ColbyCo. Oil arbeitete, wohnte er in Apartment 958. Sein Kamin ließ sich mit einer Schiebetür verschließen, sein Dinner aß er von einem Glastisch, und sein Lounge-Chair war mit Cordsamt bezogen. Als der Türgong ging, sah man ihn, der im Büro stets einen Anzug trug, ohne Sakko. Sein Po war so apfelrund, wie Johann es erwartet hatte. Steven Carrington, der Sohn seiner Chefin und Lukes große Liebe, stand vor der Tür und wusste plötzlich, wie er leben wollte und auch mit wem. Offenbar war Luke Fuller für Johann nicht mehr zu haben. Damit war die Serie für ihn gelaufen. In derselben Folge hatte Adam, der böse Bruder von Steven, Luke in dessen Abwesenheit eine »kleine Schwuchtel« genannt. Die Brüder hatten sich im Fitnesssaal, einem der 48 Räume der Carrington-Mansion, eine Schlägerei geliefert, in deren Verlauf sie mehrere Fitnessgeräte zerlegt hatten. Erst der Auftritt der traurigen Claudia Blaisdel, einer Geologenwitwe, hatte die beiden voneinander trennen können. »Streithähne, so nennen die in der Serie das«, erklärte Johann Paul. »Streithähne.«
Drei Jahre zuvor war der sensible, musisch begabte, gerechtigkeitsliebende, blonde und etwas trübsinnige Steven aus New York in seine Heimatstadt Denver zurückgekehrt, mit Händen so weich wie ein Babypopo, wie sein Vater, der Öltycoon und Clanchef Blake Carrington, fand. Die Frau im Spiegel, die für wartende Kunden in der Apotheke auslag, nannte Steven das »heiße Eisen« der Familie Carrington, was Johann für eine Gemeinheit hielt. Steven konnte schließlich nichts dafür, dass Dämonen ihn heimgesucht und zum Hohn des Herrn homosexuell gemacht hatten.
Kurz vor der Hochzeit Blakes mit seiner zweiten Frau, der Sekretärin Krystle Jennings, hatte sich Steven mit seinem Vater zur Aussprache in der Bibliothek verabredet. Zu Stevens Überraschung wusste Blake bereits, dass seinem Sohn das Lächeln eines Mannes lieber war als das einer Frau. Zerknirscht saß Steven auf dem Sofa und bat seinen Vater, ihn anzusehen. Trotz einiger innerer Kämpfe, erkennbar am Mahlen seines Kiefers, tat Blake ihm schließlich den Gefallen, und Steven wurde im Licht der Nachmittagssonne immer schöner. »Äh«, sagte Blake. Er setzte sich nun auch aufs Sofa, sprach von Psychologie und Verdrängung, machte weitere »Ähs« und erklärte, zur Not Verständnis aufbringen zu können für gewisse Experimente auf diesem Gebiet, wenn Steven es nur nicht an die große Glocke hinge.
Einige Wochen später zeigte Blake dann allerdings wenig Verständnis, als er Stevens Ex-Freund Ted Dinard aus den Armen seines Sohnes riss und mit Schwung zu Boden warf, worauf dieser auf dem Hinterkopf aufschlug und kurze Zeit später verstarb. Zum Glück, wie Johann fand. Ted Dinard gefiel ihm nicht, und das aufgewärmte Verhältnis hätte Steven bestimmt nicht gutgetan. Nach diesem tragischen Vorfall versuchte sich Steven sexuell neu zu orientieren, indem er sich mit Krystles Nichte Sammy Jo Dean einließ und sie irgendwann sogar heiratete, obwohl sie sich ihre Oberteile überm Bauchnabel zusammenknotete. Doch kurz vor Weihnachten, am 21.12.1983, ab 21:25 Uhr hatte er die Nase endgültig voll.
Die Familie hatte sich in Abendgarderobe in der Bibliothek eingefunden, selbst der Majordomus Joseph war anwesend und hatte eine Meinung zum Ganzen. Steven war klar geworden, dass er ein Scheinleben geführt hatte, um seinem Vater zu gefallen. Doch nun nicht mehr. Ab jetzt wollte er sein eigenes Leben leben. »Ich bin ein Homosexueller, Dad! Ich bin schwul. Das muss dir klar sein. Und ich möchte, dass du es sagst. Sag es. Steven ist schwul. Einer muss es sagen.« Während zartes Querflötenspiel einsetzte, warfen alle einander bestürzte Blicke in Großaufnahme zu. Schließlich sagte die tapfere Fallon, Stevens Schwester: »Steven ist schwul.« Steven, dessen Augenbrauen mittlerweile im rechten Winkel zueinander standen, drehte sich zur Seite, sah aber nicht Fallon an, sondern seine Stiefmutter Krystle Jennings. – Ursprünglich hätte sie den Satz sagen sollen, doch Linda Evans, die Darstellerin der Krystle, deren Vorfahren aus Norwegen stammten, wo Homosexualität schon lange kein Problem mehr war, sagte den Satz so unbekümmert, dass die Produzenten tags darauf beschlossen, die Szene nachzudrehen und den Satz Pamela Sue Martin, der Darstellerin der Fallon, zu geben, deren Vorfahren aus Connecticut stammten und die vor Drehbeginn einige Stunden Schauspielunterricht genommen hatte.
Al Corley, der Darsteller des Steven, ein singender Basketballspieler, geboren in Kansas, hatte ein paar Tage zuvor bei seinem Produzenten, Aaron Spelling, gegen diesen Steven Carrington protestiert, der, zerknittert und von allen tragisch missverstanden, nie ein stolzer Schwuler sein und vor allem niemals lachen dürfe.
Die Figur, die er zu spielen habe, sei eine traurige Seifenblase. Aaron Spelling wünschte Al Corley viel Glück, allerdings bitte woanders, und die Drehbuchschreiber mussten sich was einfallen lassen.
Sie schickten Steven kurzerhand auf eine Bohrinsel ins Südchinesische Meer und ließen sie in die Luft gehen. Stevens blutbefleckte Jacke dümpelte noch tagelang auf dem Wasser. Natürlich war Blake Schuld am Tod seines Sohnes, er hatte ihn mit seiner Missbilligung aus dem Haus getrieben, davon war Alexis Morell Carrington Colby, verheiratete Dexter, Stevens garstige Mutter, die im Übrigen beim selben Modeschöpfer anfertigen ließ wie ihre Rivalin Krystle, was zu einem bizarren Wettstreit um die Größe der Schulterpolster führte, fest überzeugt. Sie war nämlich nicht mehr die arme, abgelegte, kleine Frau, die sich damit zufriedengab, von den Krümeln auf dem Tisch ihres Mannes zu leben. Nein, sie war fest entschlossen, alles zu unternehmen, damit die Wahrheit ans Licht käme, die Wahrheit über Stevens Tod, auch wenn dies bedeuten sollte, sein Dahinscheiden als die Fügung eines tragischen Schicksals zu akzeptieren. Doch Blake war längst nicht bereit, sich mit Fügungen welchen Schicksals auch immer abzufinden, und während der nächsten Folgen pendelte er im Privatflugzeug zwischen Denver und Asien hin und her. Er liebte seinen Sohn über alles. Er hatte ihn nur schützen wollen vor einem problematischen Leben, dem Leben eines Homosexuellen. Als allerdings Sammy Jo, Stevens Witwe, die sich während der letzten neun Monate ihre Oberteile zunächst nur noch knapp und dann gar nicht mehr über dem Bauchnabel hatte zusammenknoten können, einige Wochen später der Familie ihren und Stevens Sohn präsentierte, war ein würdiger Ersatz für das »heiße Eisen« der Familie Carrington gefunden. Alles schien wieder gut zu werden, und Johann langweilte sich zu Tode.
Unterdessen starrte in einem Krankenzimmer in Singapur ein blonder Mann missmutig durch zwei Augenlöcher in einem dicken Gesichtsverband. Bisher hatte ihm sein Arzt jeden Blick auf sein frisch operiertes Gesicht verwehrt, nun schnitt er den Verband auf. »Ich glaube, dass Sie jetzt sehr gespannt sind.« Der Arzt reichte dem Mann, den man seit Beginn der Szene nur von hinten auf dem Krankenbett sitzend gesehen hatte, einen Spiegel. Der Mann betrachtete und betastete sich ausgiebig. Als er nach einer langen Pause sagte, dass wenigstens seine Augen ihre Farbe behalten hätten, konnte man sich auf einiges gefasst machen. Der Arzt ließ seinen Patienten allein. Das Orchester legte sich ins Zeug, der blonde Mann drehte sich langsam um, und während einer dramatischen Kamerafahrt sah man in das Gesicht Jack Colemans aus Pennsylvania, dem Ersatzdarsteller des Steven Carrington. Die asiatische Gesichtschirurgie hatte ganze Arbeit geleistet. Stevens neues Kinn war breiter als das ursprüngliche, die Ohren hatten die Ohrläppchen eingebüßt, und auf der linken Wange befand sich jetzt ein Muttermal. Johann nahm an, dass der Chirurg an dieser Stelle die Fäden der zahlreichen Nähte verknotet hatte. Er war enttäuscht.
Al Corley hatte seinem Gesicht den Ausdruck eines gehetzten Rehs verleihen können, Jack Colemans Gesicht war lediglich eine von einem Gesichtschirurgen aufgenähte ausdruckslose Maske und sollte es für die nächsten Jahre auch bleiben. Immerhin hatte sich der Chirurg die Mühe gemacht, dem neuen Kinn ein Grübchen zu fräsen. Eine Zeitlang beschäftigte Johann der Vorteil, Deutscher zu sein. Die Amerikaner mussten glauben, Stevens Stimme sei mitoperiert worden, doch in der deutschen Fassung klang er noch immer wie Christopher Atkins in Dallas oder James Van Patten in Der lange Treck, gepresst und anklagend.
Der neue Steven ließ sich von seiner Mutter bei ColbyCo. Oil anstellen, heiratete die traurige Claudia Blaisdel, las seinem Sohn aus einem Bilderbuch vor, ließ sich von der traurigen Claudia Blaisdel wieder scheiden, erstach ihren Ex-Mann, versuchte es noch einmal mit Sammy Jo und stand überhaupt unter großem Druck, weswegen er sich häufig auf die Lippe biss. Doch als am 12.2.1986 Luke Fuller wegen einer Unterschrift in seinem Büro erschien und ihm bereits bei dieser ersten Begegnung die Krawatte richtete, änderte sich alles, und Johann war wieder voll bei der Sache. Luke und Steven spielten von nun an häufig in der Mittagspause Squash in knappen Shorts. Bei einer dieser Gelegenheiten nannte Steven Luke einen Schlaumeier. Er hatte in Yale studiert und eine Zeitlang den Debattierclub geleitet. Johann wollte jetzt auch ein Schlaumeier werden. Paul war bereits ein Schlaumeier, spielte aber kein Squash. Eines Abends saß Steven in Lukes Appartement im cordsamtenen Lounge-Chair und starrte auf das weiße Rauschen im Fernseher. Das »Nichts« beruhigte ihn, und er fasste Mut, die Beziehung mit Luke, die aus dem gemeinsamen Squashspiel hervorgegangen war, zu beenden, nur um kurz darauf zu beteuern, wie sehr er ihn doch brauche und sich zu ihm hingezogen fühle.
Doch er musste einen Schlussstrich ziehen. Er hatte das Gleiche schon einmal mit Ted Dinard erlebt, und es war nicht gut ausgegangen. Auch liebte er noch immer die traurige Claudia. Er atmete tief ein, biss sich auf die Lippe und lud dann plötzlich, um die Zweifel an seiner Liebe endgültig zu zerstreuen, Luke zur Hochzeit seiner Schwester Amanda mit dem moldawischen Prinzen Michael auf dessen königliche Güter ein. Die ganze Familie würde sich dort einfinden, obwohl niemand Amanda besonders gut kannte. Es war verwirrend, Jack Coleman spielte alles gleich.
Von Denver aus betrachtet war Moldawien kein Teil der Sowjetunion, sondern ein verschlafenes, bessarabisches Königreich, in dem man mit Oldtimern die Auffahrt zum Jagdschlösschen hinauffuhr und den Kaviar aus Odessa bezog. Catherine Oxenberg, die Darstellerin der Amanda, galt für das Schauspiel einer königlichen Hochzeit auf dem Balkan als besonders begabt, war sie doch die Tochter der Prinzessin Elisabeth von Jugoslawien.
Obwohl idyllisch gelegen, blieb selbst das kleine Moldawien von Machtkämpfen nicht verschont. Ein einäugiger Bösewicht spann ein Netz gemeiner Intrigen, und während der Bischof dem königlichen Brautpaar das Jawort abforderte, überwältigten Rebellen die Palastwache, drangen in die Kapelle ein und mähten die anwesende Hochzeitsgesellschaft im Kugelhagel ihrer mutmaßlich aus dem sozialistischen Ausland importierten automatischen Waffen nieder. Sämtliche Mitglieder der Familie Carrington lagen reglos auf dem Kirchenboden. Das Bild fror ein. Executive Producer Aaron Spelling, Douglas S. Cramer, Esther and Richard Shapiro. Abblende.
Erst mit Beginn der nächsten Staffel erfuhr Johann, dass nahezu alle Beteiligten das Massaker überlebt hatten. Nur Luke Fuller lag mit einer schweren Kopfverletzung in einem der königlichen Gemächer, die Hände über der Brust gefaltet wie ein Pharao und träumte vom Strand in Connecticut. In seinem Traum begegnete er dort einem Jungen. Er fragte ihn, wie er heiße, und der Junge antwortete: »Steven.« Luke wachte auf, sagte Steven, dass er nun sterben werde und dass Steven dies wisse, und bat ihn, ihn nicht zu vergessen.
Steven biss sich ein letztes Mal auf die Lippe, schluchzte: »Ich liebe dich, Luke«, und verschwand aus dem Bild. Schnitt. Fertig. Johann schwor sich, wirklich niemals wieder Denver-Clan zu gucken. Er hielt sich daran.