Seit Wochen waren Anschläge auf Kirchen und Handelsniederlassungen verübt worden. Nachdem man am 20. Juni 1900 den deutschen Gesandten auf offener Straße erschossen und seine Leiche in Stücke gehauen hatte, belagerte die Geheime Faust für Gesetz und Eintracht das Pekinger Botschaftsviertel. Christliche Ausländer wurden massakriert; die Aufständischen, im Westen Boxer genannt, bezichtigten sie, durch dampfbetriebene Maschinen die Harmonie der Naturkräfte gestört, Unwetter und Missernten verschuldet und ansteckende Krankheiten verbreitet zu haben. Nach fünfundfünfzig Tagen schlugen die alliierten Truppen zurück. Der Hof floh nach Sian. Die Soldaten der Alliierten fielen über die Paläste der Verbotenen Stadt her, raubten die kaiserlichen Schätze und schändeten den Drachenthron.
Um zumindest einige Stücke aus dem Besitz der Kaiserinwitwe vor dem Vandalismus der »verfluchten, heuchlerischen, weißen Kultur« zu retten, erbot sich, seinem eigenen Bericht zufolge, ein gewisser Sir Edmund Trelawny Backhouse, den Transport von Bronzen, Jade, Porzellan, Elfenbeinschnitzereien, Kalligraphien und Lackarbeiten an einen sicheren Ort durchzuführen. Als der Hof sechzehn Monate später nach Peking zurückkehrte – die Kaiserinwitwe hatte die Flucht kurzerhand zu einer Inspektionsreise durch die Provinzen erklärt –, wandte sich Sir Edmund an den Palast in der Absicht, das Eigentum Ihrer Majestät unangetastet zurückzugeben.
Sir Edmund war erst wenige Monate vor dem Boxeraufstand nach Peking gelangt und verdiente sein Geld, da er ausgezeichnet chinesisch sprach und sich bester Empfehlungen rühmen konnte, mit Arbeiten für den Korrespondenten der TIMES. Ein Stipendium hatte ihm das Studium der Altphilologie in Oxford ermöglicht. Sein kostspieliger Lebensstil, der den Unterhalt einiger bemerkenswert junger Schauspieler und seines guten Freundes Oscar Wilde einschloss, hatte indessen Kredit erfordert, sodass ihm zuletzt keine andere Wahl geblieben war, als sich der Tilgung durch Flucht zu entziehen. Kaum im Reich der Mitte angekommen, verstand er es, durch seine verblüffenden Sprachkenntnisse, seine stupende Bildung und außerordentlich guten Verbindungen – auf der Reise hatten sich drei gekrönte Häupter und der alte Tolstoi um die Gunst seiner Freundschaft bemüht –, insbesondere jedoch durch seinen unwiderstehlichen, wenngleich etwas femininen Charme zu entzücken.
Die Artigkeit dieses fremden Teufels imponierte so sehr, dass der Großeunuch Li Lianying davon Kenntnis erhielt und dem Herrn aus dem fernen Britannien ausrichten ließ, die Kaiserinwitwe gewähre ihm das köstliche Geschenk ihres persönlichen Dankes. Zwei Tage später wand sich eine Prozession von Lastenträgern den Pfad zum östlichen Tor der Verbotenen Stadt hinauf. Nach Stunden gewissenhafter Bestandsaufnahme – die angelieferten Kostbarkeiten wurden auf Bestandslisten verzeichnet, bevor man sie in die neunzehn Schatzkammern des Palastes schaffte – empfing die Herrscherin ihren Wohltäter und ließ ihm zur Entlohnung nach Vollzug des dreifachen Kotaus die Plakette eines Obervorstehers überreichen. Diese berechtigte zum Tragen der zweiäugigen Pfauenfeder, was einem erblichen Adelstitel zweiter Klasse entsprach. Zusätzlich beschenkte man Sir Edmund mit einer Garnitur mythischer Frühlings- und Herbstgewänder, entschieden zu klein für seinen hohen Wuchs, einem goldenen Rückenkratzer von 28 Unzen Gewicht und dem begehrten Recht, an den vier Toren der Verbotenen Stadt jederzeit Einlass gewährt zu bekommen, sofern Ihre Majestät dies wünsche.
Kaum zwei Jahre später – Sir Edmund stand mittlerweile am Beginn einer aussichtsreichen Karriere als Handelsagent, sein Ruf als profunder Sinologe hatte sich gefestigt, zudem schickte er sich an, in den britischen Geheimdienst einzutreten – erreichte ihn aus dem Palast ein Befehl von unmissverständlicher Schärfe. Ihre Majestät erwarte, ihm des Nachts auf dem gemauerten Kang zu begegnen. Im schwankenden Palankin, den acht halbwüchsige Eunuchen nach Einbruch der Dunkelheit zum Wah-Shu-Tempel hinauftrugen, fürchtete Sir Edmund den Horror eines telum imbelle sine ictu, eines kraftlosen Speers ohne Wucht, eines Geschosses ohne Treffer. Doch seine Bedenken waren unbegründet. Cixi, die in vollem Schmuck glänzte, empfing ihn mit allerlei stärkenden Köstlichkeiten Glück verheißenden Namens und dem Krachen tausender Knallfrösche. Zwar stellte die Kaiserinwitwe auch in ihrem siebzigsten Lebensjahr noch ungewöhnlich hohe Anforderungen, sowohl was die Häufigkeit des Koitus als auch seine Methoden betraf, gleichwohl gelang es Sir Edmund durch wunderbar hinausgezögerte Kopulationen Ihre Majestät bis aufs Äußerste zu verblüffen. In den Pausen, die die Herrscherin ihnen gönnte, plauderten sie angeregt über Königin Victoria und ihr illegitimes Verhältnis zu Mr. Brown, und Cixi, die unter Ausländern als bis zur Lächerlichkeit abergläubisch und krankhaft fremdenfeindlich galt, war ganz hingerissen von ihrem europäischen Liebhaber, seinem unbestreitbaren sexuellen Talent, seinem Witz und seiner scharfen Auffassungsgabe.
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In seinem Buch Emanzipatorische Psychoanalyse beschreibt der amerikanische Psychoanalytiker Bernard Brandchaft, ein Vertreter des intersubjektiven Ansatzes in der psychoanalytischen Theorie, das Phänomen der pathological accomodation, der krankhaften Anpassung. Brandchaft bezieht sich auf die Möglichkeiten eines Kindes, selbst dort Bindung zu erhalten, wo sie radikal bedroht ist, zum Beispiel durch den Rückzug der an einer Depression erkrankten Mutter. Sich ihren Wünschen und Erwartungen bruchlos anzupassen, mit ihren Haltungen so sehr zu verschmelzen, dass das Kind selbst kaum mehr ahnt, wer sich hinter der Maske dieses freundlichen, zuvorkommenden und sich um gute Stimmung bemühenden Wesens verbirgt, wäre eine solche Möglichkeit. Der Preis fürs widerspruchslose Zimmeraufräumen, fürs fleißige Hausaufgabenmachen und freiwillige Rasenmähen, der Preis fürs Mundhalten und fürs Liedersingen, fürs Gefallenwollen ist hoch: Er besteht im Verlust eigener, abgrenzender Erfahrung, wodurch sich das Selbst verzerrt. Das Kind wird auf diskrete Weise fürsorglich. Es verzichtet auf den Exhibitionismus eigenen Handelns und wählt das Versteck des voyeuristischen Beobachters. Als Patient klagt es Jahrzehnte später, selbst wenn es Erfolg im Beruf hat und gelegentlich Liebe erfährt, über Leere und Sinnlosigkeit. Die Anerkennung des falschen Selbst bietet keine ausreichende Nahrung für das verkapselte und nicht mehr zugängliche, für das wahre Selbst.
Claas Relotius, der bescheidene Claas, hat sich in einer kurzen Selbstauskunft als jemanden bezeichnet, der dazu neige, die Kontrolle haben zu wollen, diesen Drang, diesen Trieb, es doch irgendwie zu schaffen. Von ihm, der so »zurückhaltend« ist, so »höflich, aufmerksam, ein wenig zu ernst vielleicht« (so sein SPIEGEL-Kollege Ullrich Fichtner), hätte niemand einen Betrug erwartet. Warum eigentlich nicht? Ist es so schwer, hinter der Bescheidenheit des freundlichen Kollegen den verzweifelten Versuch einer Anpassung zu erahnen, die zwischen grandioser Omnipotenz und der Angst vor Fragmentierung schlingert? Die Omnipotenz ist der Blick des Reporters, der wie ein »verspielter kleiner Gott« (Fichtner) auf die Kreaturen sieht, die eine Satellitenaufnahme bei Google Earth bevölkern, die Fragmentierung ist dieses merkwürdige Grau-Grün-Braun, das die Sattelitenaufnahme selbst darstellt. Vielleicht muss man in Einsamkeit geübt sein, um sich so etwas vorstellen zu können.
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Obwohl er selten eine Gelegenheit ausließ, seine unbedingte Aufrichtigkeit »feierlich und ernsthaft, urbi et orbi, ohne den leisesten Anflug eines Vorbehalts« zu beteuern, entsprach nichts von dem, was Sir Edmund Trelawny Backhouse von seinen Begegnungen im Palast berichtete, der Wahrheit. Er war der Kaiserinwitwe weder begegnet, noch hatte er jemals zu einem ihrer Hofbeamten Kontakt gehabt, geschweige denn je einen Fuß in die Verbotene Stadt gesetzt. Seine letzten Jahre widmete er der Konversion zum Katholizismus. 1944 starb er unverheiratet und kinderlos im Hospital St. Michel in Peking. Der Nachwelt hinterließ er ein paar haarsträubende Gerüchte und einen ramponierten Reisewecker.