Davor
Betriebsfahrtsstimmung im Abteil. Seit diese Gruppe sich in den Zug drängte bei Göttingen, ist an vormittäglichen Ernst nicht zu denken: »Noch ein Sektchen? Ein Likörchen? Vielleicht ein bisschen Obst?«, rufen sie und prosten sich zu zwischen den Plätzen. Und statt Obst reichen sie fingerdicke Scheiben grober Wurst. Mein Blick streift am Vordersitz vorbei und ist gar nicht mehr ins Buch zu kriegen. »Wer mitfährt, muss auch mittrinken!«, sagt da die Dame, aus deren Handtasche zwischen weißen Kunstlederschichten sich der eindeutig rote Kopf einer noch ungeöffneten Sektflasche schiebt. Also trinke auch ich auf ewige Heiterkeit und verinnerliche den Eierlikör samt essbarem Schokobecher. Mit verschmiertem Daumen und Zeigefinger notiere ich, dass aufgeschlossener Optimismus vielleicht die bessere Begegnungshaltung ist für diesen Literaturwettbewerb in Berlin.
Dazwischen
Ich bin nun also aufgeschlossen optimistisch. Das heißt: Zum Open Mike komme ich ohne vorab definierte Erwartung, bin aber bereit, mich beeindrucken zu lassen. Ich blättere nur mit Oberflächenblick in der begleitenden Anthologie, um die Unmittelbarkeit einer Entdeckung nicht schon vor Lesungsbeginn zu gefährden. Bis dahin versuche ich aus Kleidungsstil und Anspannungsgrad zu schließen, wer vortragen wird.
»Ich war letztes Jahr dabei und hab auch diesmal ʼn Text geschickt, aber den haben sie nicht genommen, die Schweine«, sagt einer mit Mütze am Buffet, als er sich ein paar Brocken Kartoffeln in sahnig-beiger Soße auf ein Tellerchen kleckert; die Schöpfkelle übergibt er in senkrechter Wartehaltung an den Nächsten. »Das mit den Schweinen war nicht so gemeint«, meint er zum Wettbewerbslektor hinter ihm und lässt sich nichts anmerken.
Ich beginne einen Katalog der Bewegungen im Raum während jeder Lesung: Eine Motte ganz klassisch vorm Lichtkegel führt zu Flattern auf der Beamertapete. Die Jury vollführt eine komplizierte Choreografie, indem jedes Mitglied in mannigfaltigen Variationen den Kopf erst auf den linken, dann auf den rechten Arm stützt. Neben mir werden Sonnenblumenkerne gepult. Das Dimmflackern der Lampen wirkt wie eine optische Täuschung. Ich erinnere mich daran, als ich betrunken im Hotelzimmer liege und die Zeilen im Buch einfach nicht linear bleiben wollen.
Am nächsten Tag bin ich bereits erfahren und richte mich ein in die Vorläufigkeit meines Stammplatzes. Bitte nehmen Sie keine Glasflaschen mit auf die Empore! Das Publikum hat vorgesorgt und mitgebracht und wagt sogar Erschöpfungserscheinungen zu offenbaren: die Augen geschlossen/den Kopf auf der Brüstung/der Kugelschreiber verzeichnet passendes Gekurve zum Text.
Im belebten Paralleluniversum Foyer erkenne ich vereinzelt Gesichter und wiederhole mögliche dazugehörige Namen. Ein Displayrechteck leuchtet durch eine dunkelkarierte Hemdtasche. »Dein Fehler ist, dass du von jedem ernst genommen werden willst. Das wollen die aber nicht. Hör auf damit, fick sie einfach«, sagt einer sehr eindringlich zu einem anderen. Ich vergrößere meinen Pausenradius. Es gilt, Sitzschwere abzuschütteln und Frischluft zu konservieren für einen weiteren, den letzten Block. Ich habe noch nicht den zum schwören besten Kebab gefunden, trotz der Auswahl entlang dieser Straße um diesen Veranstaltungsort in Neukölln.
Dicht vor der Preisvergabe dreht sich die Stimmung in Schrauben nach oben. Kühlscharfe Aufmerksamkeit und drängelnde Ungeduld während der Vorreden. Dann der Applaus. Im Allgemeinen freut man sich mit, ich aber probiere im Geheimen einen fremden Sieg an und werde ganz neidisch dabei. Blumenkarawanen ziehen auf die Bühne, die Menschen sind aufgeregt. Die Sieger machen Posen für die Kameras von feierlich bis gelöst. Dann die plötzliche Leerung des Saals. Dann der aufgeregte Kommentar und die Fragen mit Dringlichkeit: »Und was meinst du?«
Danach
Dumpfe Kartenspielstimmung im Abteil. Kälte strahlt von den Fenstern, man ist müde zurückgeschlagen auf sich selbst. Unaufgefordert verbleibt man im Flüsterton. Ich tippe und speichere Erlebtes in kleinen Portionen. Gerade so groß, dass sie in essbare Trinkbecherchen aus Schokolade passen würden.
Tilman Rammstedt (Gewinner des Wettbewerbs 2001, Juror 2011) über seine Verwunderung beim diesjährigen Open Mike in Berlin – Walfischbecken.