»Lieber Necati, danke für deine E-Mail, und ja, ich schreibe gerne etwas über ›Unlearning‹ fürs Theatertreffen, das klingt interessant. Würdest du mir vielleicht ein paar Beispielartikel aus den letzten Jahren schicken, damit ich den Kontext verstehe? Danke dir, ich freu mich sehr! Sivan«
Die Absurdität meiner Nachricht wird mir klar, unmittelbar nachdem sie getippt ist. Ich bin eingeladen, über das Thema »Unlearning« nachzudenken und mein erster Impuls ist es, den Dress-Code zu checken?! Diese Angst, nackt auf einem gut angezogenen Event aufzutauchen. Und beim Theatertreffen geht es nicht nur um die Anzüge und die Krawatten – es ist der rote, tiefrote Teppich des deutschen Theaters, das »international bedeutendste Branchenfestival« mit den »zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison, die alljährlich von einer unabhängigen Kritiker*innenjury ausgewählt werden«. Nicht unbedingt der Ort, an dem eine ihre weniger bemerkenswerte Cellulitis und ihre nackte Haut zur Schau stellen will.
Auf die Worte meiner nicht gesendeten Nachricht schauend, registriere ich den leisen Unterstrom jener Angst der Immigrantin, unwissentlich »falsch gestimmt« zu sein oder »aus dem Rahmen zu fallen«. Sie ist auch immer Teil des Ganzen. Es ist erst vier Jahre her, dass ich die Wegbeschreibung zu einer Veranstaltung bekommen und gegoogelt habe, was das Wort »REWE« bedeutet. Es ist erst drei Jahre her, dass ich das Wort »Theatertreffen« auf genau die gleiche Weise gegoogelt habe.
Mit dem Verlassen des Mittleren Ostens, wo sich mein Wissen entwickelt hat – veränderte der gesamte Komplex meiner Gewohnheiten und Erfahrungen seinen »Wert« und korreliert oft nicht mehr mit dem der lokalen, »typischen«. Was das neu gewonnene Wissen angeht: Der Unterschied zwischen »REWE« und »Theatertreffen« ist vielleicht inzwischen klar, der zwischen UMfahren und umFAHren noch nicht wirklich. Die lokalen Berühmtheiten kommen mir immer noch alle gleich vor. Die Sprache hört nicht auf zu zwicken. Die Identität des Publikums bleibt ein Rätsel: Wer seid Ihr?
Ich merke, dass ich durch mein Außenseitersein in der deutschen Gesellschaft genauso wie in der Theaterszene zwangsläufig in der Position einer »Unlearnerin« bin. Und eine »Unlearnerin«, die im Rahmen eines Branchenfestivals über »Unlearning« spricht, ist nicht notwendigerweise auf der sicheren Seite. Sie ist ein nackter Körper in einer gut angezogenen Umgebung.
Ich klicke auf »Versenden«.
Die Nachricht wird verschickt, wie sie ist.
»Affirmative Sabotage«, sagt Gayatri Chakravorty Spivak zu »Unlearning«.
Die Trennung von dem Ort, an dem ich mein ganzes Wissen gesammelt habe, hat eine Veränderung der Umgebung hervorgerufen, die zu überraschenden Zusammenstößen mit diesem entlernt-sabotierten Ich geführt hat.
Faktoren wie meine Position in der Gesellschaft, mein Set von Privilegien oder das schlichte Gefühl von Redefluss werden immer noch täglich entblößt.
»Sivan, ich muss dich was fragen«, sagte eine Kollegin vor weniger als einem Jahr. »Ich finde, die meisten Israelis lesen nicht wirklich, denen fehlt so viel grundlegendes Wissen …Wie kommt‘s, dass du so kritisch geworden bist?« Nicht ihren Wissensbestand zu haben macht mich weniger kultiviert. Würde das jemand zugeben? Selbst in den liberalsten Kreisen – wird der*die Umgesiedelte*r oft insgeheim als ignorant angesehen. Als unbeholfen, als faul. Als Schlamassel. Und Umsiedlung ist, in diesem Fall, eine Metapher. Für Überdenken, für Transformieren, für Verlernen. Ob jemand seinen Ort wechselt – seine Perspektive – seinen Körper – oder sein bevorzugtes Pronomen.
Die Versuchung, jetzt zu »betrügen«, mit Wissen »anzugeben«. Zu lehren.
Wäre dies ein Text mit pädagogischen Absichten, käme jetzt der Moment, ein Zitat fallen zu lassen.
Mir war vorher nie bewusst, dass im Englischen die Wörter »cheat« und »teach« so nah beieinander liegen.
Unter dem Schlagwort »Essay« bei Wikipedia finde ich: » … Formelle Essays zeichnen sich durch ›ernsthafte Absicht, logischen Aufbau‹, informelle Essays durch ›Selbstoffenbarung, individuelle Erfahrungen und Geständnischarakter‹ aus«.
Pädagogisch, ernsthaft, zitierend, formell. Fragmentarisch, intuitiv, nackt, informell.
Männlich. Weiblich.
Lehren. Ent-lernen.
»Es ist nicht möglich, seine Privilegien zu verlernen, Privilegien sind historisch gegeben. Deshalb sollte ich, statt auf mich selbst zu fokussieren – und zu verlernen und zu verlernen und zu verlernen – meine Privilegien gegen den Strich anwenden: Man muss seine Privilegien verlernen, als Verlust.«
Gayatri Chakravorty Spivak
Wenn ein subventioniertes, historisch privilegiertes System eine radikale Idee als Diskussions-Gegenstand übernimmt, ist das Resultat eine Gruppe beauftragter Künstler*innen/ Denker*innen, die das System lehren, wie es sich selbst und seine eigenen Privilegien verlernt.
Na schön.
Aber ich frage mich, ob das System bereit ist für ein bisschen Chaos.
Ist das System bereit für einen Verlust?
Ich komme nicht umhin, mich zu fragen:
Während wir hier sitzen und »Unlearning« als Teil eines angesehenen Festivals für Staatstheater-Produktionen diskutieren, sind wir nicht eigentlich schon das, was irgendjemand, irgendwo versucht zu ver-lernen?
»Damned if I do, if I don’t /
Goddamn us all if you won’t /
Damn, damn, damn, it’s a goddamn shame /
You ain’t frontline, get out the goddamn way /«
Kendrick Lamar
Manchmal tagträume ich meine Zukunft in Deutschland. In meinem Traum liegt mein gealtertes Selbst allein in einem deutschen Pflegeheim. Schmales Bett auf Rädern, unfähig, mich zu bewegen.
Yona Wallach – eine israelische Dichterin – schrieb in ihrem letzten Tagebuch, wie die Pflegerin in dem Hospiz in Tel Aviv, in dem sie ihr Leben beendete, jede Nacht ihr Gesicht streichelte, bis sie einschlief.
In meinen Tagträumen rufe ich den Pfleger (Gender-Rollen ver-lernen), versuche ihm irgendetwas über meine Bedürfnisse mitzuteilen, aber die Grammatik meiner Sätze verwirrt sich mehr und mehr, und an einem Punkt schneidet er mir einfach das Wort ab: »Ja ja, alles okay« und verlässt das Zimmer. Ich kann sehen, wie abgestoßen er von meiner Sprache ist. Der grammatische Schlamassel hat den Eindruck von Dummheit entstehen lassen. Er wird niemals mein Haar streicheln, um mir beim Einschlafen zu helfen.
Die erste erlernte Sprache ist ein guter Ausgangspunkt für eine Untersuchung dazu, wie tief der Akt des Erlernens tatsächlich geht. Wie die organische Zunge sich in der Mundhöhle bewegt – ein Leben lang – nach Mustern, die in den ersten Jahren erlernt wurden. Die Überreste der »Mutterzunge« (»erlernen«) im Versuch, sie hinter sich zu lassen oder sich von ihr zu entfernen (»ent-lernen«) – können durch das faszinierende Phänomen von Akzenten erkannt werden. Die privaten und kollektiven Akzente sind für mich ein konstantes Relikt, eine Erinnerung an die unentrinnbaren »Lehren« der Vergangenheit.
Die Abtrennung von meiner Sprache und die Entscheidung, an ihrer Stelle mein unperfektes Englisch und Deutsch zu benutzen – wurden zu einem Weg, meine inneren Muster als Schreiberin und Denkerin zu ver-lernen. Sie wurden zu einem Weg, mit kulturellen Mustern umzugehen, ihnen zu widerstehen. Man kann sie auch Narben nennen.
Was man weiß, verlässt einen nicht.
Aber innerhalb dieses »Wissens«, das ich vermutlich hauptsächlich aufgrund meiner Hautfarbe, meines Geldes und meiner Zugänge erworben habe, kann ich immer noch wählen, wo ich stehe. Ich kann entscheiden, meinem Standpunkt eine Perspektive hinzuzufügen. Und noch eine. Und noch eine. Ich kann mich entscheiden, diesen roten Teppich mit meiner entblößten Cellulitis zu betreten. Es ist eine Handlung. Und Handlungen sprechen.
Der*die Immigrant*in kann nicht dem »Wissen« und dem »Erlernten« folgen, selbst wenn sie oder er es versucht. Das Ent-lernen lebt in ihren Körpern, als ein schwerer, stotternder Zungen-Muskel, der sie in eine konstante Dringlichkeit gegenüber der Form bringt, gegenüber dem Inhalt, gegenüber der Konfrontation mit jedwedem System, das will, dass alles perfekt funktioniert.
Ich denke über Dringlichkeit nach.
Je privilegierter jemand ist, umso weniger Dringlichkeit hat sein Handeln. Theater gründet sich auf Dringlichkeit. Die Lücke zwischen Publikum und Bühne wird dialektisch und herausfordernd für beide Seiten, wenn keine Zeit für Dekorationen und Adjektive ist. Dringlichkeit kann nicht in Auftrag gegeben, kann nicht eingeladen werden. Dringlichkeit ist, wie Privilegien, historisch gegeben.
Wenn sich jemand im öffentlichen Raum befindet, und es juckt unter den Kleidern – wird dieser Jemand, höchstwahrscheinlich, das Jucken ignorieren und weitergehen. Aber wenn das Jucken ein Schlangenbiss ist. Dann wird Ent-Lernen zu einem Notstandsgesetz. Man macht sich nackt, weil man muss. Man erhebt die Stimme, weil man muss. Man fordert Aufmerksamkeit, weil man muss.
Vielleicht ist Ent-lernen einfach Zuhören. Das stille Wasser aufspüren, das unter jedem Wissenssystem fließt? Den Text lesen, aber im Raum zwischen den Worten innehalten. Vielleicht ist Ent-lernen einfach die Fahrt zu entschleunigen und nach dem zu schauen, was auf dem Weg verloren gegangen ist?
Das Fenster öffnen und in die Dunkelheit schreien, wissend, dass da etwas warten muss, unerkannt. Vielleicht ist Ent-lernen einfach zu zählen, wie oft am Tag jemand entscheidet zu schreien, aus vollem Halse: »Wer ist nicht hier?«
Aus dem Englischen von Maren Kames
Der Essay wurde für das Magazin des Theatertreffens 2018 geschrieben und dort publiziert. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.