Es gibt Menschen, die einen durch ihre bloße Existenz an den Rand des eigenen Daseins bringen. Diese Menschen, von denen man sagt: die öffnen Herzen, und das zeigt dir, wozu dein Herz in der Lage ist und wozu nicht und überhaupt. Warum das passiert, dass plötzlich Herzen aufgehen, nur weil gewisse Menschen einen Raum betreten, an anderen Leuten vorbei laufen oder anfangen zu singen, konnte noch nicht abschließend geklärt werden, aber ich glaube, es hat etwas mit ausufernder Menschlichkeit zu tun. Jemand, der ohne Filter unterwegs ist, der keine Mauern zwischen sich und der Welt hochgezogen hat, entweder weil er es nie wollte oder weil er es einfach nicht kann, pumpt zwangsläufig sehr viel Gefühl in jede Situation und Lebendigkeit in jeden Moment und Vergänglichkeit in jeden Raum, denn alles, was auftaucht, taucht auch wieder ab, und etwas, das so sehr leuchtet, kann von der Dunkelheit besonders hart getroffen werden.
Kürzlich, es war auf einem Schiff Richtung Island, traf ich auf so jemanden, und ich habe zwar keine Sekunde ernstaft darüber nachgedacht, mit ihm nach Norwegen durchzubrennen, aber allein, dass er mir diese Frage gestellt und tatsächlich auf eine Antwort gewartet hat, Himmel nochmal. Als wir uns nach einer Woche verabschieden mussten, und mir – wie allen anderen auch – die Tränen übers Gesicht liefen, kam ihm nochmal eine ähnliche Idee und er sagte, dass er mich ja einfach entführen könnte, wenn ich das wollte, ich schüttelte mit explodierendem Herzen den Kopf und sagte leise »nein«, aber halt: der Reihe nach.
Wir stiegen an einem Samstagmittag auf dieses Schiff, ein paar Freunde und ich, in einem dänischen Hafen. Wir bemerkten den Menschen sofort, er stand zwei Meter groß in der Abfahrtshalle, Seesack auf dem Rücken, Gitarre in der Hand, graue, schulterlange Haare, grauer Bart, riesige Hände, riesiges Lächeln.
»Oh«, sagte meine Freundin K., »ein Wikinger!«
»Ja«, sagte ich, »aber er könnte auch halb Mensch, halb Bär sein«, und von da an klebten unsere Augen an ihm, sobald er irgendwo an Bord auftauchte. Diese Lachfalten. Dieser schwere und doch so federnde Gang, wie er sich bei jeder Ecke, die er nahm, in die Kurve warf. Diese langen Arme, die durch die Luft flogen, wenn er redete. Dieser ganze, massive Mann, der in einer Tour Freude und Kraft und Verletzlichkeit versprühte. Wir stellten uns vor, dass er nachts an Deck vor lauter Inbrunst dionysische Hörner aus seiner Stirn drücken würde, die dann bei Tageslicht wieder abfielen. Und unsere Ohren klebten an seiner Stimme, nein: seine Stimme war einfach überall, sie gehörte zum Sound des Schiffs wie die Maschinen tief unten im Bauch, ich fand, er hörte sich an wie eine rostige Version von Johnny Cash.
Wir überquerten die Nordsee, dann ging es raus auf den Nordatlantik, wir legten an den Färöer Inseln an und an der isländischen Küste, es gab Seegang, es gab Seekrankheit, es gab Tabletten dagegen, und es gab Rum und Bier, und nichts davon ließen wir aus, wir stellten uns alles ins Regal, und von allem so viel wie möglich, und ich denke, das lag auch an dem alten Wikinger, dem das komplette Schiff noch in der ersten Nacht verfiel. Wir lebten von einer Sekunde auf die nächste, wir lebten wie er die letzten sechzig Jahre gelebt haben musste.
Es reichte nie.
Es musste immer noch ein bisschen mehr sein.
Gib her die Welt, aber mit der ganz großen Kelle, ach, scheiß drauf, ich nehm‘ gleich den Eimer.
Wir fassten uns ständig alle an, und sei es nur im Vorübergehen, und wir befanden uns nicht nur auf dem Wasser, wir waren auch verdammt nah am Wasser gebaut, ständig heulte wer. Als hätte der Wikinger im Handstreich unsere Festlandrüstungen weggefegt. Einmal, es war am vorletzten Tag, glaube ich, behauptete er, das Schiff würde sich von menschlichen Sicherheitssystemen ernähren, aber er behauptete auch, die Maschinen hätten seine Tasche gegessen, dabei hatte er sie nur in der Nacht zuvor beim Trinkgelage in irgendeinem Maschinistenquartier verloren.
In einer isländischen Höhle hörte ich ihn zum ersten Mal singen. Ich stand neben ihm, wir standen alle um ihn herum, zu unseren Füßen stand eine Fackel, und erst wusste er nicht, welches Lied er singen sollte, aber dann fand er Leonard Cohen und Suzanne und na ja: Schleusen auf. Es wundert mich im Nachhinein schon, dass wir nicht das Feuer ausweinten.
Die See wurde von da an mit jedem Tag ruhiger, wir wurden es immer heftiger. Unsere Herzen waren inzwischen so auf, dass alles ganz klebrig zu sein schien. Man setzte sich neben irgendwen und dann blieb man eben und überall stand Rum herum, sie mussten ganze Fässer an Bord gebracht haben. Draußen – wir lagen immer noch im Fjord von Sejdisfjördur – war die Welt auf die Größe einer winzigen Stadt am Fuße verschneiter Berge zusammengeschrumpft, von Deck aus gesehen. Über uns eine dünne Sonne und dicke Wolken, außenrum sehr viele Möwen und eine einzige Robbe.
Und in einer Tour Musik. Gitarren, Gesang, es wurde sogar zu Elvis Costello getanzt, und das muss man erstmal hinkriegen. Wenn ich morgens in meiner Kabine aufwachte, wusste ich meist nicht so recht, wie genau ich da eigentlich hingekommen war, und gleichzeitig machte ich mir Sorgen, es könnte nachts jemand über Bord gegangen sein, vor lauter Mond anheulen. Am letzten Abend schenkte mir der Wikinger einen Umschlag, in dem Umschlag war eine Geschichte, die er für mich geschrieben hatte. Dann sang er ein Lied über innere Falltüren und sagte mir, ich sei sein Sturm, aber irgendwie hab ich es doch wieder sicher in meine Kabine geschafft. Am nächsten Morgen war er nirgendwo zu sehen.
»Oh nein«, dachte ich, und wollte es nicht zu Ende denken, oh nein, oh nein, oh nein.
Lange nachdem das Schiff die letzten Passagiere aussgespuckt hatte, kam er die Gangway runter, unerhört frisch im alten Gesicht und mit nassen Haaren. Er nahm mich in den Arm und sagte, er wäre in einem der Hot Tubs an Deck eingeschlafen, und das schien ihn tatsächlich selbst etwas zu erstaunen.
Über den darauffolgenden Abschied möchte ich lieber nicht nochmal schreiben, es würde zu weh tun, aber ich habe jetzt für alle Ewigkeiten eine Narbe auf dem Herzen, die immer anfängt zu ziehen, wenn ich ein Schiff sehe oder Leonard Cohen höre. Nur gut, dass ich damit nicht allein bin.