Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Die Geschichte begann vor so vielen Jahren, im Sommer 1999, um genau zu sein. Er machte Musik auf einer Bühne in Ostdeutschland, ich stand im Publikum und hatte Heimweh nach Hamburg, er sang Lieder von meiner Stadt, die auch seine Stadt war, und dann sang er ein Lied für mich, weil ihm mein T-Shirt aufgefallen war, dann war Backstage, Rockstarparty, Hotelzimmer, meine Güte, das Übliche eben.
Aber ohne Anfassen.
Wir schliefen nebeneinander in diesem Bett und hatten uns zum Einschlafen in den Arm genommen, gegen mein Heimweh, gegen seine Einsamkeit auf Tour, gegen dieses verfluchte Gefühl, in die Welt geworfen zu sein, na ja, okay: Vielleicht waren wir auch einfach nur zu bekifft für Sex.
Es war eine schöne, innige Nacht, da war etwas sehr Vertrautes zwischen uns, und ich hab oft mit einem merkwürdig verrutschten Gewissen an ihn gedacht, nachdem ich mich am nächsten Morgen ziemlich schäbig und irgendwie unelegant aus dem Staub gemacht hatte.
In den darauffolgenden Jahren liefen wir uns immer wieder über den Weg, meistens etwas verschämt. Wir standen nebeneinander auf Spielplätzen herum, Mensch, so ein Zufall, du hier, oder auf Partys, ach, komm, dann tanzen wir eben, was soll’s, einmal war ich sogar beruflich bei ihm zu Hause, glaube ich, aber eventuell hab ich das auch nur geträumt, es ist so viel passiert in den letzten zwanzig Jahren.
Wenn ich mir heute so anschaue, was aus uns geworden ist – beiden manches aus dem Ruder gelaufen, aber trotzdem alles höchst lebendig –, denke ich, dass wir vermutlich jede Menge Spaß miteinander hätten haben können. Und doch haben wir’s nie hingekriegt, etwas zusammen auf die Beine zu stellen, keiner von uns hat Anstalten gemacht, das Ding einfach mal festzuhalten, irgendwas anderes war immer wichtiger.
Bis zum letzten Herbst. Wir waren zufällig gemeinsam auf einer Bühne, und plötzlich hatte ich das Gefühl, es festhalten zu wollen. Hat wahrscheinlich mit dem Alter zu tun: Einmal über vierzig, schimmert am Horizont das Ende auf, manchmal blinkt es sogar und schickt Botschaften, und ich habe immer öfter keine Lust mehr darauf, Menschen, mit denen mich etwas verbindet, einfach so vorübergehen zu lassen.
Wir tauschten Telefonnummern.
Als ich seine speichern wollte, fiel mir auf, dass mein Telefon sie längst gespeichert hatte, keine Ahnung, wie lange schon, sie war auf jeden Fall da, ich hab sie nur nie benutzt.
Seitdem sprechen wir uns, sehen wir uns, kriegen wir unsere Ärsche von der Couch und treffen uns an Abenden voller Gegenwart und Klarheit und Wehmut und Wetter. Wenn er Konzerte gibt, stehe ich manchmal an der Säule, und er platzt in meine Lesungen rein. Es gibt Musik, es gibt Geschichten, es gibt Gekicher, es gibt der Vergänglichkeit abgetrotzte Augenblicke, es ist ein bisschen wie mit einem alten Schulfreund, nur beknackter. Wenn wir tanzen, öffnen sich am Himmel alte Filmrollen, da fallen Zelluloidstreifen raus und Erinnerungen, am Tresen bestellen wir Getränke aus gemischten Gefühlen und Vergeblichkeit, er mag sie gern süß, ich eher trocken, und beim Abschied umweht uns jedes Mal ein Hauch von bis bald, ja?
Neulich sagte er: »Ich erinnere mich ganz gern an diese eine Nacht mit dir, es war so schön, einfach nur jemanden atmen zu hören.«
Werden Sie mit den Jahren eigentlich auch immer sentimentaler?