Die Theaterautorin Simona Sabato hat gerade ein neues Stück geschrieben: »Wir sind besser als unsere Körper (run)« erzählt von einem Marathon der Selbstoptimierung. Dieser Prosatext ist wie ein thematischer Nebenspurt: er konzentriert sich ganz aufs Gesicht.
Wir waren befreundet, seit ich ihr sechs Seeigel aus dem Rücken entfernt hatte. In einem Brackwasserbach hinter unseren Wohnhäusern hatten wir uns kennengelernt. Die meisten Mieter und auch wir, ihre Kinder, saßen an heißen Sommerabenden in diesem Bach. Ausgerechnet Wendys Rücken krochen die Seeigel hinauf und verwirrten sie für die nächsten Jahrzehnte. Sie hinterließ fast eintausend Portraits, mit schwarzen Strichen und Stacheln gespickt, und an ihrem letzten Nachmittag fragte sie: Bist du da? Ich war gemeint, die Seeigelkönigin mit den stählernen Fingerkuppen. Wir standen um ihr Bett. Ihr Bruder, wie immer mit frisch rasierter Brust unter der Jeansjacke, lächelte mir kurz zu, er hatte mich wenige Tage zuvor aus Vancouver angerufen: Komm.
Wendy – die Wangenknochen hoch wie Schornsteine – quält sich zu sterben. Ein paar Sonnenstunden hat sie noch, ein paar Worte krieg ich noch.
Bist du hier?
Ja, meine Liebe, hier bin ich, hier steh ich, neben dir, deinem Kopf, ich bin hier.
Bist du hier?
Jahrzehnte der Freundschaft, die Jahre der Feindschaft vergesse ich einfach: nach all den Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben.
Hier bin ich, meine Wendy. Die Hand, die ich drücke, zerfällt fast. Wendy öffnet noch mal die löchrigen Augen.
Hör mal.
Ich höre.
Alle hören.
Schief siehst du aus, sagt diese Wendy, und so unfrisch, schmettert diese Tote. Es folgen Ausführungen, die nur anfangs noch verständlich sind. Was verständlich ist, wird wiederholt. Eine Trauerfeier sanfter Worte und ein paar andere dazwischen.
Am nächsten Morgen frage ich Volltrunkene und Kinder, die Wahrheit ist gefragt, ich sehe in Wasserflächen, Displays und offene Pupillen, schief und unfrisch, was an mir, alles oder nur einiges?
Der erste Fachmann für Schiefes und Unfrisches, im Berliner Westend, legt einen Metallstab an mich. Meine Stirn sei einseitig zu schmal. Eine Unproportion, die nur aus dem Augenwinkel zu beseitigen sei. Ob es ok sei, frage ich, wenn ich seine Fensterscheiben anhauchte, ich sähe gern ein wenig in die Blautannen in seinem Garten. Ich hauche ein wenig, dann bin ich bereit.
Man sollte den Rest Ihres Gesichts schmälern, er tupft neue Formen an mich, er schattiert meine Außenränder, meine Wangenknochen, ich scheine plastischer, plastischer als ich bin. Was ist falsch an meinen Nasenflügeln? Er hat Kreise unter sie gemalt. Das ist der Bereich, den Ihre Freundin gemeint hat. Leidenschaftlich bereue ich, ihm von Wendy erzählt zu haben. Hier sind Sie Ihrer Zeit weit voraus. In Frühlingsgrün schreibt er Zahlen in mein Gesicht. In die Kreise unter meiner Nase schreibt er zweihundert. Was das zu bedeuten habe. Dies sei mein Alter in dieser Region.
Ich hebe die Hände: ich geh eben in den Garten. Ich gehe zwischen die beiden Blautannen, ich setze mich kurz auf den Boden, wo die Blaunadeln auch braun sind, und denke an die Region schräg unter meinem Nasenflügel. Meine uralte Region der Zukunft. Ein leerer Bereich, mein mimisch freier Einwand. Ich gebe zu, in diesem Moment beschließe ich, einer Welt, in der eine Zeit abläuft, fortan mit Missmut zu begegnen. Missmutig versuche ich, mich in einer Tannennadel zu spiegeln.
Zwei Käfer mit glänzend schwarzem Rücken kommen vorbei, und langsam bewege ich mich über ihnen. Mein Gesicht auf ihre Rücken verteilt. Sie laufen ein gewisses Stück zusammen, dann fressen sie sich in die Stämme der Blautannen.
Natürlich habe ich Freunde, die mich beschwichtigen, Wendy, wie oberflächlich wollte sie dieser Welt entsagen, so entsetzlich fad, flach sei ihr Urteil mich betreffend. Dabei sehen sie mich an, die Freunde, einige. Wieso habt ihr ihr Bett nicht ans Fenster gestellt? werde ich gefragt. Da hätte sie in die Wolken sehen müssen, es war mieses Wetter, verteidige ich mich. Ich will mich nicht ohne Not als letzten Anblick aufgedrängt haben. Eigentlich siehst du doch einigermaßen durchschnittlich aus, höre ich und denke: Nun gut, da sagt man danke. Nach dem Dank fahre ich nach Dresden, zu einer Ausstellung über das Gesicht als solches, einfach Das Gesicht.
Eine nicht wärmende Sonne leuchtet und gegen neun esse ich eine Brühwurst auf einem Markt für Lebensmittel und Herrensocken. Die Ausstellung freut mich, aber ich komme nur zentimeterweise voran, weil ich viel zu notieren habe, in alle Richtungen. Auf die praktischen Anwendungen allerdings verzichte ich gern, die in etwa so aussehen: Vor einem meterhohen Monitor kurz stehenbleiben, um von einem fremden Rechner Vermutungen über die eigene Existenz zu erfahren, die sich im Wesentlichen auf Alter und Geschlecht beziehen. Das wird schon in etwa so aussehen, wie es aussieht, denke ich, oder ähnlich Unbeholfenes.
In der Bahn, in einem frisch bezogenen Abteil, auf dem Weg zu einem nächsten Ort, einem Hotspot für Verbesserungen, sitze ich neben einem leicht gebeugten Mann, der vorgibt, eine der schönsten Ideen der letzten Zeit gehabt zu haben. Er habe eine Kamera mit einer Gesichtserkennungssoftware in den Himmel gerichtet, und bei Gesichtern aus Wolken habe diese die schönsten Fotos ausgelöst.
Diese habe ich zufällig schon in zwei Museen bewundert, und ich herze und tätschle die Sitze, denn diesen Mann kenne ich zu wenig, aber für meine Anerkennung reichen die Worte nicht. Eine Zugstunde später gesteht er mir, gelogen zu haben, er heißt Giannino und weist nur die Gegen-Idee auf. So werde ich Zeugin einer dreistündigen Demonstration dieser Idee, er hält sein Handy in Richtung der Abteil-Gesichter und will die Wolken aufspüren. Wir fahren Richtung Prag, jeder hat sein Gesicht dabei, wir zeigen es, und ich würde recht gern darauf verzichten. Erst als der Zug in einem Prager Außenbezirk notbremst, kann Giannino erste Ergebnisse melden, seine Kamera löst hektisch aus. Die Frau neben mir scheint einer Wolke zu ähneln. Zu sechst vertiefen wir uns in ihre Poren, sie bittet um Meinungen, Blicke, Bilder, um Urteile, um Prophezeiungen, und wir geben ihr alles. Sie hat sich auf die Reise gemacht, in diese Stadt der Schönheit, nachdem sie erfahren hat, die Lider wachsen ein Leben lang weiter. In welche Richtung wachsen die Lider? fragt sie sich seit dieser Nacht. Hoch in die Stirn? oder schleifen die oberen in nächster Zukunft über die unteren? Wie die Frau, die die Wolkensoftware in Erregung versetzt hat, verstört auch mich diese Basic-Info, sie öffnet mir nachts die Augen. Ich will sie sehen, die ewig langen Lider. Netzweit suche ich in den Morgenstunden die Weitüberhundertjährigen, lass mir erzählen von einer Zeit, in der sich die Ungeübten auf Fotografien nicht erkannten, weil ein Gesicht ihnen nicht präsent war, ihr eigenes. Noch vor dem Frühstück vergleiche ich diese Zeit mit diesem Tag, mit diesem Morgen, an dem einige sich die blanken Buttermesser vor die Augen halten, sich nicht erkennen, weil sie viele Fotos später was anderes erwartet haben, und jetzt in dieser Stadt, unweit von diesem Hotel, diese Augen, oder auch nur alles über, zwischen und unter diesen, das ganze hungrige Set, den Fotos, den schönen, anpassen werden.
Der Frühstückskellner mit seinen flotten Wimpern bietet sich an für eine Betrachtung über ein grenzenlos ansehnliches Gesicht, ich versinke.
Ich denke an die Frau, die sich als erste Wangenimplantate in die Stirn hat basteln lassen, und die ersten Wangenimplantate in einer Stirn, die Anweisung zu dieser Op., dieser Einsatz, dieser Ansatz, scheinen mir aufregend wie ein gelungener Schattenwurf. Ich bitte um eine zweite Thermoskanne Filterkaffee, wie sie jedem Gast zusteht, und gestehe ihm, dem Kellner, eine Recherche über das Allgegenwärtige werde schnell uferlos. Denke an den Bach und Wendy und die Gesichter der Erinnerung. Die eigenen und die anderen.