Von Martin Luther gibt es etliche Portraits, und diese wiederum sind auf Tassen, Wimpeln, in Büchern oder sonstwo verewigt. Schaue ich mir die Bildnisse näher an, von denen einige durchaus wahrheitsecht erscheinen, ist mir der Mann nicht unbedingt sympathisch. Er hat etwas von einem zupackenden Kraftmaxe, einem Polterer, der gern mal mit der Faust auf den Tisch haut. Bekanntlich war der Reformator ein großer Esser, vermutlich zeigte sich sein Gesicht im Eifer der Essgefechte gerötet und schweißüberglänzt. Ich ziehe die etwas feiner gebauten Herren mit schmaleren Köpfen, trockenem Antlitz und zarterem Körperbau vor. Melanchthon, dieser kluge, eher zurückhaltende und bedachtsame Mann, hätte mir ungleich besser gefallen.
Blickt man aber länger auf eines der berühmten Gemälde, die es von Martin Luther gibt – etwa das von Lucas Cranach dem Älteren –, so erkennt man darin auch einen eingezogenen Menschen, der die Stille der Bedachtsamkeit hegt und nicht nur vom Ungestüm davongerissen wird. Beide Charaktereigenschaften waren ihm wohl zu eigen – die polternde Stärke und zugleich eine Fähigkeit, sich in sich zu versenken, um als beständiger Gottsucher Gewissheit zu erlangen über das eigene Suchen und Streben.
Das sprachliche Können des Reformators war unzweifelhaft enorm. Diesbezüglich fliegt dem Mann meine Verehrung mit Pfeilgeschwindigkeit über die Jahrhunderte hinweg stracks nach Wittenberg zu. Kraftvoll hat Luther in allen möglichen Suppentöpfen der verschiedenen deutschen Dialekte, will heißen: in deren Sprachkuriositäten gerührt, hat mit der Kelle die fettesten Brocken in einen Riesenteller geschöpft. Silbenketten, Buchstabenpaare, ganze Wörter, zuweilen auch den Spruchweisheiten entlehnte Wortverbindungen regten seinen Appetit an. Vom Starkzehrer, der er nun mal war, wurden sie mit Wonne verputzt, wobei sie natürlicherweise mit den Säften des Verdauungstraktes in Berührung kamen, dann aber mit geschliffener geistiger Politur wieder ans Tageslicht treten durften, um nicht zuletzt gottvater- oder zumindest sprachvater- und sprachmuttergleich die deutsche Sprache emporzuwuchten in ungeahnte Höhen.
Gleichzeitig wurde diese damit befähigt, fortan in verschrifteter Form als vereinheitlichte Sprache, eben als Deutsch, erhobenen Hauptes durch die zersplitterten Teilländchen der kleinen und klitzekleinen Fürstentümer zu ziehen. Und das mit Hilfe einer der wichtigsten geisterhellenden Schriften, die es auf Erden gibt – der Bibel. Wobei Martin Luther die verschiedensten Tonlagen beherrschte: herzinnige, zum Beispiel bei den Psalmen, aber auch scharfe, wenn er in seinen Randkommentaren, mit denen er die Ausgabe seiner Übersetzung umzirkte, gegen erschwindelte oder wirkliche Feinde vom Leder zog.
Ohne Frage, das ist eine Riesenleistung. Dante Alighieri hatte zweihundert Jahre vor Martin Luther etwas Ähnliches für den italienischen Sprachraum vollbracht – durch seine betörend kluge Glanzdichtung, die Divina Commedia, die das moderne Italienisch bis heute prägt. Luther erreichte mit seiner Übersetzung der Bibel etwas annähernd Vergleichbares. Im deutschen Sprachraum konnte sich eine Hochsprache herausbilden, welche Anerkennung genoss und so ganz nebenbei die Dichter und Gelehrten allmählich dazu verlockte, ihre Schriften auf Deutsch zu verfassen, nicht nur auf Lateinisch oder Französisch. Wahrlich, das ist keine Kleinigkeit.
Martin Luthers Mammutwerk ist hinreißend. Zu Beginn meiner Studentenzeit habe ich beim Lesen seiner Übersetzung im ursprünglichen Wortlaut einen regelrechten Narren an der Bibel gefressen. Das Gedrängte der Sprache, die glosenden schwarzen Löcher, die zwischen den oft knapp gehaltenen Sätzen gähnen und damit sofort die Maschinchen der Interpretation in Gang setzen, das ungemein Würzige und Aufgetummelte des Stils, aber auch die komplexen, sprachverstolperten Barrikaden, die immer wieder ein Innehalten erzeugen – das alles war für mich damals ein Erlebnis der besonderen Art und hat mich regelrecht vexiert.
Nun habe ich mir in meiner Begeisterung allerdings eine Ungerechtigkeit zuschulden kommen lassen. Die deutschen Sprachregionen der Schweiz und Österreichs kommen zu kurz, wenn man die komplette Spracherneuerung und deren Zusammenführung allein auf die deutschen Landstriche und auf Luther bezieht. Es sei daran erinnert, dass zum Beispiel in der Schweiz die Bibelübersetzung von Huldrych Zwingli ein klein wenig vor der Lutherbibel erschien, ebenfalls eine Meisterleistung, die an dieser Stelle leider nicht richtig gewürdigt werden kann.
Unvergesslich sind mir gewisse Wendungen, die sich mir durch die Lutherbibel eingeprägt haben, zum Beispiel eine kleine Stelle aus Psalm 6, Vers 3, worin es heißt: »HERR sey mir gnedig / denn ich bin schwach / Heile mich HERR / denn meine Gebeine sind erschrocken.« Wir sind daran gewöhnt, dass das Herz erschrickt und mit seinem Schlagen durcheinandergerät oder gar stillsteht; die bis auf die äußere Ummantelung nervenfreien Knochen eher nicht. Trotzdem ist die Formulierung ungleich schlagender. Denn das Wort Gebeine erinnert sofort und ausschließlich an den Tod. Ein erschrockenes Herz hat bei weitem nicht dieselbe Durchschlagskraft. Martin Luther hat aus einem Riesensack voll hinreißender Formulierungen das entsprechende Material für seine Übersetzung herausgeklaubt. Eine meine Lieblingsformulierungen ist das »Murren wider den Herrn« aus dem zweiten Buch Mose. Sofort kann man sich vorstellen, dass da gegrummelt wird, der Ärger sich in die Herzen gefressen hat, womöglich schon halblaute Flüche an die Luft entlassen werden, aber alles geschieht verdruckst, noch nicht mit der freiwerdenden Gewalt offener Rebellion. Sehr schön ist auch eine Formulierung, die Wanderschaft des Volkes Israel betreffend. Sie »umzogen das Gebirge« heißt es, da steht eben nicht das viel umständlichere »sie wanderten um das Gebirge herum«, zumal in der Kurzformulierung Luthers das eher unschöne zweimalige Wörtlein um elegant vermieden wird. Das Verknappungspotential so manch älterer Formulierung, die man heute aber noch gut versteht, sollte man nicht unterschätzen.
Apropos knapp. Die Knappheit, ja, sogar die Kargheit der meisten biblischen Sätze, die hat es in sich. Die Bibel breitet nichts aus, da wird mit geradezu herrischer Durchschlagskraft vorwärtserzählt. Um auf den Punkt zu kommen. Man kann sich das sehr leicht vergegenwärtigen, wenn man an Thomas Mann und seinen Josephsroman denkt. Der Schriftsteller brauchte für die elegante romanhafte Bestückung und Ausdeutung der biblischen Geschichte, verfrachtet in allerlei retardierende Schleifen und Biegen, weit über tausend Seiten. Die entsprechende Bibelstelle enthält nur wenige Absätze, weil die Bibel niemals offen psychologisiert, niemals allzu introspektive Gedankendeutungen vornimmt, Handlungen in ihrer motivischen Komplexität nicht abschnittelang aufdröselt und kommentarbegleitend dahinschnurren lässt. Gerade in der drangvollen Kürze, die sich damit begnügt, das Wichtigste zu sagen und alles andere der Ausdeutung zu überlassen, darin liegt ihre Stärke. Wäre das alles damals schon in verschiedenen gedanklichen Brechungen ausformuliert worden, wäre aus der Bibel zwar ein reizvolles literarisches Frühwerk geworden, aber nie und nimmer ein Buch, das Generationen umgetrieben, eine geradezu irrsinnige Zahl vom Kommentaren im Schlepp ans Tageslicht gezogen und bis auf den heutigen Tag eine verbindende und erziehende religiöse Wirkung erzielt hat.