Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Der Dramatiker Christoph Nußbaumeder besuchte auf Einladung des Goethe-Insituts São Paulo und unter Mitfinanzierung der DFB-Kulturstiftung als Kapitän der Autorennationalmannschaft – kurz: Autonama – mit seinem Team vom 1.6. bis 8.6. São Paulo und Rio de Janeiro. Neben verschiedenen Lesungen kam es auch zu einem Spiel gegen das brasilianische Autorenteam. Das Spiel endete 0:0 unentschieden.
Das kreischende Fußvolk glaubt an seinen Messias, mehr denn je. Seine Mitspieler suchen ihn, fast jeder Angriff läuft über ihn. Kommt er an den Ball, wird Atemberaubendes von ihm erwartet; Tempodribblings, Tricks und Tore, vor allem Letzteres. Er ist der Schöpfer des brasilianischen Spiels, der filigranste Künstler unter den anderen hochbegabten Ballartisten. Schwebt er gerade nicht über den Rasen, sondern verweilt kurz an einem Fleckchen, beispielsweise vor der Ausführung eines Eckstoßes, springen die Zuschauer, die er mit seiner Nähe beehrt, auf. Sie beklatschen ihn, sie skandieren seinen Namen, sie überhäufen ihn mit Lobpreisungen. Halb belustigt, halb verwundert, knufft mich mein Mitspieler und Stadionsitznachbar Florian Werner in die Seite: »So nahe werden wir ihm in diesem Leben nicht mehr kommen.« Er grinst, ich grinse zurück. Zugegebenermaßen sind wir dabei auch etwas benommen von der Benommenheit der um uns Herumstehenden.
Im Morgenlicht der brasilianischen Wintersonne schimmert mein schwarzes T-Shirt violett. Selbst wenn man wollte, es fiele schwer, Tristesse modisch zur Schau zu stellen. In einem Reiseführer steht, hier sei alles erlaubt, außer traurig zu sein.
Bom de Samba, eine Dreimanncombo mit Handtrommel, Rassel und Gesang, sorgt in der Fußgängerzone von São Paulo für saugute Stimmung. Die Stadt ist wie immer, viel Verkehr, viel Beton, viele Baustellen. Einige Kinder spielen am Straßenrand mit heruntergerissenen Plastikgirlanden. Sie freuen sich, so scheint es, als Einzige auf die anstehende WM. In ihrer Heimatstadt wird schließlich das Eröffnungsspiel ausgetragen, da wird was los sein.
São Paulo ist auf Sumpf gebaut, die Wege sind weit, Fahrradhändler werden hier nicht reich. Der Umgehungsring ist noch nicht fertig, Stau, Lärm und Chaos sind normal, wie so manch anderer Wahnsinn, den eine 20-Millionen-Stadt ohne flächendeckende Kanalisation täglich auswirft. Und doch ist etwas anders, sagt man uns. Die Sonne schimmere nicht so freundlich, die Sambacombos seien nicht ganz so gut gestimmt, und die Staus würden länger andauern als sonst. Eine Woche vor der Fußballweltmeisterschaft verfallen die Brasilianer zwar nicht in Trauer, sie stehen dem Großturnier aber verhalten gegenüber. Die Vorfreude und der Gastgeberstolz sind getrübt, die Hauptstraßen sind weitgehend ungeschmückt. Die vereinzelten Blumengestecke dienen weniger der Zierde als den Straßenkatzen als Abort. Allerorts hört man von Protesten verschiedener Berufsgruppen. In den letzten Wochen häuften sich die Streiks; Lehrer, Ärzte und Metrofahrer verweigerten den Dienst, wissend, dass die Welt auf Brasilien schaut, hoffend, dass sich durch die internationale Berichterstattung etwas ändert in ihrem Land. Die Bürger der Mittelschicht wollen nicht mehr tatenlos zusehen, wie ihr Gemeinwesen ausgehöhlt wird, sie sind wütend, denn sie zahlen hohe Steuern, und das bei geringer Gegenleistung. Gesundheits- und Bildungswesen sind völlig marode, während die Regierung zig Millionen in die WM-Organisation gepumpt hat, sämtliche Kalkulationen für Stadionbauten und Infrastrukturen wurden maßlos überzogen, rigorose Maßnahmen, wie die tausendfachen Umsiedlungen von Favelabewohnern in Rio, empörten zusätzlich die Gemüter. Was das finanzielle Desaster für den Steuerzahler angeht, müsste man sich analog dazu vorstellen, Berlin würde fünf weitere BER-Flughäfen in den märkischen Sand setzen, bei gleichbleibend wirtschaftlicher Impotenz. Die brasilianische Regierung, Hand in Hand mit FIFA und WM-Sponsoren, erinnert in ihrem Vorgehen an das schamlose Profitstreben der Kaffeebarone, die hier im 19. Jahrhundert siedelten. Verschärfend kommt hinzu, dass der Polizeistab unterbesetzt und teilweise schlecht ausgebildet ist.
Vermutlich könnte man sich zur Zeit und auf die Schnelle ein goldenes Näschen mit Deeskalationsseminaren verdienen. Wegen diesem ganzen filzigen WM-Firlefanz gehen die Leute also zum ersten Mal wieder seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 massiv auf die Straßen. Die Mittelschicht ballt ihre Hand zur Faust, sie probt den Aufstand. Richtig zuschlagen will sie noch nicht. Die Regierung weiß, dass nur ein Weg aus diesem Übel herausführt, die Seleção muss Weltmeister werden. Nur eine erfolgreiche Nationalmannschaft macht die Tumulte vergessen und lässt lässig zur Tagesordnung in Post-WM-Zeiten übergehen. Böse Zungen behaupten, das Halbfinale sei bereits gesichert, auf die FIFA – im Volksmund Pay and Play – sei Verlass. Bei einem kläglichen Ausscheiden der Seleção, gepaart mit weiteren unbedachten Regierungsentscheidungen, besteht jedoch die Gefahr, dass in den Straßen der Großstädte reichlich Demonstrantenblut fließt, aus den Protesten könnten gewalttätige Aufstände werden. Würde dann auch noch die Polizei streiken, wären wohl, ausgehend von den Favelas, Plünderungen und Brandstiftungen nicht mehr aufzuhalten. In den Favelas selbst kümmert das kaum jemanden. Für ihre Bewohner kommen Reformen ohnehin zu spät, sie glauben nicht mehr an Sozialprojekte und daran, dass sich grundlegend was in ihrem Viertel verändern wird. Wenn sie die Wahl hätten, wollten sie weg, mit einem Satz, direkt zur Oberschicht hinauf. Die Mädchen, zumindest die mit rundem Sambapo und schmalen Hüften, drängt es ins Showbiz, die Jungs mit feinen Füßchen wollen in den Stadien Europas kicken. Für sie ist berühmt werden der einzige Ausweg aus der Armut.
Der Eckstoß hat nichts eingebracht. Serbien, letzter Testspielgegner der Seleção vor der WM, hält hinten dicht. Neymar schwebt wieder zurück aufs Spielfeld, er versucht erneut alles für sein Land zu geben. Der zierliche Zehner der Brasilianer mit den knabenhaften Gesichtszügen hat es schwer in diesem Spiel, immer wieder vertändelt er den Ball, nur selten kann er eine Lücke in den Abwehrverbund des Gegners reißen. Neymar da Silva Santos Junior, so sein bürgerlicher Name, ist 1,74 Meter groß, seine Schultern sind schmal. Und doch lastet derzeit weit mehr Gewicht auf ihnen, als die 1145 Tonnen schwere Christusstatue in Rio tragen könnte: Über 192 Millionen Menschen haben ihn zum Messias auserkoren, denn im Grunde will eigentlich niemand Gewalt im Land der guten Laune, wo traurig sein verboten ist. Mit seiner Leistung steht und fällt die Mission der Seleção. Jimmy Hartwig, unser Mannschaftstrainer, sagt: »Wenn der nicht öfter abspielt, wird das nichts mit Brasilien.«