Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich wurde wieder Winter, und da fiel mir auf, dass ich seit zwei, drei Jahren keine Probleme mehr mit Erkältungen habe.
Ich war früher viel erkältet. Das heißt, als ich jugendlich war, Jethro Tull und Motörhead und Pink Floyd hörte und mit Udo Jürgens nichts am Hut hatte, war ich ebenfalls nie erkältet. Ich hatte mich damals, im heldischen Zeitalter (fünfzehn, sechzehn), einer wirklichen Abhärtung unterzogen. Diese bestand darin, dass ich immer das Fenster offen ließ, auch im dicksten Winter. Ich lebte damals in Friedberg in der Wetterau an einem kleinen Flüsschen, das Usa heißt, wir nennen es »die Us«. Flüsse sind im Wetterauischen wie im Lateinischen weiblich: die Usa, die Wetter, die Nidda. (In Klagenfurt sind die Flüsse auch weiblich, und wenn die Glan oder die Lend mal zu irgendeinem Jubiläum nach Udo Jürgens umbenannt wird, wird man an »der Jürgens« entlangflanieren können.) Ich galt meinen Altersgenossen als zu spät gekommenes Blumenkind. Tatsächlich kannte ich mich mit Wiesenblumen überhaupt nicht aus, sondern war ein zwischen dem Blauen Bock und der Friedensbewegung aufgewachsenes Kind, aber manchmal pflückte ich Blumen und legte sie dem einen oder anderen Mädchen des Nachts auf das Fensterbrett, während es schlief. Das hätte auch Udo Jürgens gefallen, und vielleicht hatte er das auch manchmal gemacht, als Kind, als er noch diese beeindruckenden Ohren hatte und deshalb vielleicht auch lieber nur nachts auftrat, wenn alle schon schliefen und ihn keiner sehen konnte mit seinen Dumbo-Ohren.
Und weil ich ein Blumennarr war und insgesamt einen wohl irgendwie aus der linksalternativen Szene ererbten Naturkult aufführte, ließ ich immer das Fenster offen. Im Winter schneite es tatsächlich auf meinen Schreibtisch. Damals hatte ich den Zauberberg noch nicht gelesen. Hätte ich damals bereits den Zauberberg gelesen, hätte ich sicherlich zu husten angefangen und gedacht, vielleicht erwirbst du sie dir, die Lungenkrankheit, du erwirbst sie hier direkt vor dem Fenster und wirst dann selbst Literatur. Es ist schon erstaunlich, wie ein Mensch im Jahre 1985 (ich) immer noch so viel mit Lungenkrankheit zu tun haben konnte, nämlich durch Lektüre. Zauberberg, Dostojewski, Thomas Bernhard, wer es nicht an der Lunge hatte, konnte ja eigentlich gar nicht mitreden. Vielleicht ließ ich auch deshalb das Fenster auf.
Hätte ich damals Udo Jürgens gehört, hätte ich das Fenster vermutlich schnell zugemacht, damit keiner hört, dass ich gerade Udo Jürgens höre. Als kleines Kind übrigens habe ich wirklich Udo Jürgens gehört, und zwar freiwillig, das habe ich dann erst etwa 35 Jahre später wieder gemacht. Als Kind habe ich eine »3 mal 9«-Schallplatte meiner Mutter aufgelegt (wer weiß noch, was eine »3 mal 9«-Schallplatte war?), und am liebsten hörte ich das einzige Udo-Jürgens-Lied auf dieser Platte: Siebzehn Jahr blondes Haar. Ich war damals sechs oder sieben. Damals wurde dieses Lied zum Grundmuster meines Lebens. Das erste Mädchen, das mit mir schlief, war zwar fünfzehn, also eigentlich zwei Jahre zu jung für das Udo-Jürgens-Sprach- und Denk-Universum, aber es hatte immerhin blondes Haar. Dieses erste Mädchen hat mich bis heute geprägt, ich bin jetzt siebenundvierzig. Noch heute sind Mädchen für mich eigentlich fünfzehn und haben blondes Haar. Siebzehn kam mir damals, als ich sechs, sieben war, natürlich vor wie geschätzte fünfzig oder sechzig. Das waren einfach Erwachsene. Alte. Als ich fünfzehn war und Sex mit Fünfzehnjährigen hatte, war das Lied von Udo Jürgens längst aus meinem Bewusstsein entschwunden. Als ich siebzehn war, hatte ich dann eine wundervolle Liebschaft mit einer 38-Jährigen. In die Udo-Zeitrechnung konnte ich mich also nie richtig einklinken, und was das Lied für mich damals, als ich sechs oder sieben war, bedeutet haben mag, kann ich nicht mehr eruieren. Etwas, was siebzehn Jahr alt war und blondes Haar hatte, war offenbar etwas Wünschenswertes. (Ich habe ja auch die Barcadi-Werbung früher nie so recht verstanden, und die Zigarettenwerbungen auch nicht. Ich wusste zwar immer, dass das begehrenswerte Dinge waren, aber nie warum.)
Nun wurde es also Winter, und ich dachte an Markus Lanz. Ich habe keinen Fernseher, aber ich habe eine Freundin, eine Lehrerin aus dem Gießener Raum, mit der ich in den letzten Jahren zu Udo Jürgens’ Konzerten zu gehen pflegte. Manchmal schickt sie mir Links. Einmal schickte sie mir einen Link zu einer Talkshow von Markus Lanz mit Udo Jürgens. In dieser Talkshow sagte Udo Jürgens einen Satz, der für mich sofort bedeutsam wurde. Ich muss vielleicht noch sagen, dass ich Markus Lanz bis zu diesem Link nicht kannte und bis heute auch nicht viel mehr über ihn weiß als seinen Namen und dass er Südtiroler ist, was man ihm in der Sendung aber nicht angehört hat. Er versuchte in dieser Zwei-Mann-Talkshow eigentlich ständig, Udo Jürgens zu unterbrechen. Aber Udo Jürgens, dieser damals, ich glaube mit 78 Jahren, völlig in sich ruhende Mann (vielleicht war er auch leicht angetrunken), schaute so dermaßen mild und verständnisvoll auf diesen jugendlich Aufgeregten, dass es eine philosophische Wonne war. Lanz also fragte Jürgens, was für dessen so blendendes Aussehen verantwortlich sei. Udo Jürgens antwortete, meiner Erinnerung nach, erst einmal dahingehend, dass er weder aufgehört habe zu trinken noch auf irgendeine andere Weise Spaß zu haben. Aber!, sagte er, aber eines sei vielleicht in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Er dusche kalt. Er dusche immer kalt. Und dann sagte er diesen Satz, über den ich erst einmal lange nachdachte, der für mich zuerst nur Theorie war, bei dem ich aber nach einigen Wochen in die praktische Probephase überging. Udo Jürgens sagte: »Kalt duschen bringt einen so richtig nach vorn.«
Dieser Satz ist etwas ambivalent formuliert. Das Nach-vorn-Bringen kann man so oder so verstehen. Es empfehlen zwar unzählige christliche und vor allem katholische beziehungsweise pietistische Gläubige immer wieder, eiskalt zu duschen, um gerade nicht nach vorn zu kommen. Wer aber Udo Jürgens in diesem Moment gesehen hat (78, bei Markus Lanz), der spürte die Ambivalenz des Satzes.
Ich habe zugegebenermaßen wochenlang am Kaltduschen geübt. Am Anfang ging es gar nicht. Dann nur ein paar Sekunden. Später ging es länger, und heute springe ich in jeden angeeisten See. Ich bewerte Hotelzimmer inzwischen dahingehend, wie kalt das Wasser ist. Auch mein Umzug nach Hamburg war ganz gut, weil das Wasser in meiner neuen Dusche wesentlich kälter ist als im mediterranen Frankfurt am Main, wo ich früher immer gewohnt habe.
Als ich Udo Jürgens diesen Satz sagen hörte, fiel mir natürlich gleich der bekannte Satz ein, der lautet: »Den Säufer und den Hurenbock, den frierts im dicksten Winterrock.« Damals beschloss ich, von Udo Jürgens zu lernen. Der Mann war deutlich älter als ich, aber ich spürte eine gewisse Seelenverwandtschaft. Seit damals dachte ich jeden Tag an Udo Jürgens, nämlich immer beim Duschen. Meistens sang ich dabei munter: Heute beginnt der Rest deines Lebens. Munter, denn ich hielt ihn ja offenbar für unsterblich. Ich sang den ganzen Refrain, das war mein Zeitmaß für die Dusche. Meine Frau war davon nicht begeistert (sie musste es ja hören). Aber selbst die Haut wurde wieder jünger. Und nackt unter der Dusche im eiskalten Wasser an einen Mann zu denken, bringt einen heterosexuellen Menschen tatsächlich nur auf eine der beiden besagten Weisen nach vorn.
Jetzt ist jedes morgendliche Duschen ein Totengedenken. Die früher mitschwingende Ironie und Munterkeit ist gänzlich weg. Auch unter der Dusche hat er uns allein gelassen. Jetzt singe ich Heute beginnt der Rest deines Lebens und weiß, wovon das Lied wirklich handelt. Vom Nachsterben.