Wenn aber nun die Schreibenden den Mut hätten, sich für utopische Existenzen zu erklären, dann brauchten sie nicht mehr […] etwas, das man Kultur, Nation und so weiter zu benennen pflegt […].
Ingeborg Bachmann
Und hier der Garten. Hier eine Bank, auf die uns hinzulegen wir keine Zeit haben, schnell in die Schlange einreihen, die sekündlich wächst, und dann frierend an den Mauern der ehemaligen Fabrik hochschauen, sich in irgendwas mit dem Blick verkrallen, was nicht unsere nervösen Gesichter sind.
Hallen, in denen ich nie gewesen sein wollte, zwischen Anmut und Wir-waren-mal-Naziland-Schock ins Nirgendwo der Stadt gerammt, lassen mich hinein. Die Lautsprecher der Stereoanlage drücken gegen meine Ohrmuscheln wie Kopfhörer, ich schnappe nach Luft, sie ist so dünn, sie ist nicht genug, sie ist voll von Pheromonen, die pulsierende, halbnackte Körper um mich herum ausströmen.
Ich spüre die Bässe durch das Fleisch in meinem Kiefer. Auf das Ziehen im Kiefermuskel folgt ein stechender Schmerz in den Schläfen. Das Wasser steht mir in den Augen, ich kann nicht anders, als sie aufgerissen halten. Es ist dunkel. Hier in diesen Lagerhallen, die man mir genau so beschrieben hatte, wie sie sind – ohne Fenster, beste Musikanlage der Stadt, der Welt, aller guten Zeiten. Ehemaliges Heizkraftwerk aus den Fünfzigern, sieht aus wie das Staatssicherheitsgebäude, das in meiner Geburtsstadt steht. Mehr gab es nicht zu wissen, außer das mit dem Sex vielleicht: überall würde, könnte man vögeln. Die angebliche Sexschaukel finde ich gleich bei der Bar, es sind ein paar zusammengeleimte Holzplatten an dicken, schweren Ketten. Sie schwingt unter dem Gewicht von brav Gekleideten, auch sie aneinanderklebend an Oberarmen und Schultern, man zieht synchron an Strohhalmen. Eine verlangsamte Choreografie, so etwas wie Etikette.
Ich tauche meine Finger in den Gin Tonic, um die Gläser besser zu greifen. Sobald ich mich von der Bar wieder entferne und die von Lichtstrahlen angedeutete Tanzfläche betrete, umfasst mich der Raum wie warme, feuchte Lippen. Er saugt an mir. Ich rieche den Nacken des Mannes vor mir, sein nasses Kraushaar, das sich vom Haaransatz in die Mulden zwischen den Halsmuskeln runterschlängelt. Er riecht nach Tier. Ich zwänge mich an ihm vorbei, reiche Sivan ihr Glas, trinke wie zum ersten Mal im Leben, verschlucke mich, atme heftig ein. Mein T-Shirt hängt schwer an mir herunter, ich trage nicht viel mehr als das, aber es ist plötzlich viel zu viel. Sivans Handflächen bleiben an meinem Schweiß kleben und ziehen die Haut der Oberarme mit, wenn sie sich losreißt. Sie trommelt auf mir in unregelmäßigen Schlägen, ihre Fingerkuppen kratzen meine Kopfhaut, sie zieht mich an den Haarspitzen gerade, damit ich besser über die Köpfe schauen kann. Ich drehe mich zu ihr, ich habe sie noch nie so hell gesehen. Ihr Gesicht ist glatt wie ein Spiegel. Aus ihrem aufgerissenen Mund kommt lange nichts, ich kann die Schnappatmung nur vermuten, und dann, fast im Stakkato, schreit sie: »Gleich kommt sie! Gleich kommt Mykki!«
Ich habe das Zeitgefühl verloren. Mykki kommt, das denke ich seit einer, seit zu vielen Stunden. Der DJ, der mit einem Tuch sein Gesicht wie mit einer Sturmmaske verdeckt, heizt die Räume ein, ich tanze, mehr weiß ich nicht, die Lautsprecher tragen den Beat bis in die Eingeweide, in meinen Kiefer, bis hinter die Stirn. Die Muskeln bewegen sich von selbst, meine Glieder zucken, ich zünde meine Zigarette an Sivans Stummel an. Für kurz ist es ganz still, das Schlagen der Bässe kommt dumpf von allen Seiten, ich sehe, wie sich das Feuer durch das Papier frisst, fast kann ich das Geräusch hören, spüre das Weiterbrennen in der Lunge, dann kommt das Licht zurück, es schlägt Bahnen durch die Menge, es reißt die Dunkelheit über unseren Köpfen auf und zeigt, wie hoch die Decke dieses Bunkers ist, in dem wir alle eingeschlossen auf Mykki Blanco warten. Eine Rapperin, ein Satyr, eine Göttin. Ich reiße den Kopf nach hinten und versuche die Treppengeländer an den Seiten der Halle zu erahnen, die ins Nichts führen, abrupt enden oder in die Betonwände übergehen. Wie Phosphor leuchten Kniekehlen zwischen den Geländerstäben und durchgedrückte Arme auf der Brüstung, keine Gesichter, keine Schultern.
Das Wippen eines Hinterkopfes dicht an meinem Nasenbein und von Sivans Pferdeschwanz an meinem Ohr verursachen Rauschen. Ich beobachte die Kurven in Sivans Profil, die halbrunde Stirn, die sich wölbenden Lippenkissen, die geweiteten Nasenflügel. Ihre Augen huschen über die Bühne, von rechts nach links, von links nach rechts und wieder zurück, die Haut um ihren Mund spannt sich, sie sagt nichts mehr, und ich verstehe, dass Mykki über die Bühne rennt. Sie ist da.
Bevor ich sie erblicke, überschlägt sich das Publikum mit Zurufen. Sie singt und springt dabei so schnell, nicht möglich, ihr zu folgen. Binnen Minuten füllt sie die Bühne mit ihrer Stimme, und es reicht ihr nicht, also springt sie in die klebrige Masse, die unsere Körper bilden, und spaltet sie mit ihrem Zentauren-Gang. Ihr Brustkorb biegt sich weit nach vorne, das Spitzendekolleté des Jeanskleides ist ihr bereits beim Von-der-Bühne-Springen zum Bauchnabel gerutscht, auf der rechten Lungenflanke sehe ich ihren tätowierten Davidstern, als sie mir nahekommt, ihre Lianenarme ausfährt und mich unter den Schultern wegdrückt. Die Schnörkelschrift »Pony Boy« über ihrer Brustwarze, genau auf meiner Augenhöhe, zuckt, springt mit uns allen zusammen auf und ab, während ihre blonde Perücke mitten aus der Tanzfläche wächst, höher als alle dunkelglänzenden Halbköpfe, die sie umkreisen. Obwohl ich vor ihr stehe, sehe ich sie nie ganz, sie taucht ab und auf und wieder auf und ab, wie eine Meerjungfrau geht sie in unseren Körpern baden. Schickt ihr tiefes Lachen durch den Raum, dass ich erschrecke, mal kommt es von hinten, dann schreit sie: »Romeo! Romeo!« Die Menge sucht sie zwischen den Silhouetten im Dunkeln, wo ist sie, kriecht sie auf dem Boden? Das Mikro schreit: »Romeo!« Auf der Bühne nach wie vor der halbvermummte DJ, der auf seinen Plattentellern Liegestütze macht, keine Mykki. Dann Aufruhr oben auf einer der Treppen, irgendwie ist Mykki dort hinaufgesprungen und schmeißt die anderen Körper fast herunter, drückt sie an die Wand, verschafft sich Platz, um Julia zu spielen.
Sie sagt: »Das hier ist für alle, die mit HIV leben müssen«, und während sie singt, dreht sie sich zum Publikum, und ihre nackten Pobacken fressen die Gitterstäbe der Balustrade. Sie reibt sich am Geländer, reißt die Arme hoch, und ich spüre sie, sie wächst in mir an wie eine Seifenblase, dehnt mich aus, die Arme, meinen Hals, den Kopf, verbindet mich mit den Körpern der anderen. Licht, das auf Wände prallt und zurückschlägt in die Menge, blendet uns. Wir werden langsam, das Licht schwimmt über leere Treppen, den leeren Flur, über die Bühne, spielt mit uns. Unsere Köpfe wackeln wie lose.
Mykki ist verschwunden, wie sie gekommen war, ohne große Ankündigung, organisch mit den Beats. Wir schauen trotzdem lange noch nach rechts und links, warten, bis sie irgendwo in der Menge, neben uns auftaucht. Ich schmecke klebrigen Glitzer auf meiner Zunge. Blinzele als wäre mir Salzlauge in die Augen gekommen, kneife sie zusammen, reibe sie, und als ich sie wieder aufkriege, sind wir wieder im Garten vor dem Heizkraftwerk auf der Bank, in der die Bässe von drinnen weitervibrieren.
Wir überlegen, Flugzeuge zu nehmen. Irgendwohin. Irgendwohin, wo uns keiner kriegt. Nach Mykki Blanco vielleicht, warum nicht, diesem utopischen Ort, diesem »Hebrew, shemale, female«, dessen mit Tattoonadelstichen beschriebener Körper alles abwarf – die Kleider, die Perücke, den Drag. Sie setzte sich in die Hocke auf die Plattenteller und zeigte auf uns mit ihren langen Fingern. Rief uns zu sich.